Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
und Apa haben mir gerade von Deiner herrlichen Neuigkeit erzählt. Masel tov! Ich muss die zukünftige Madame Lévi so schnell wie möglich kennenlernen. Da es so aussieht, als würdest Du in absehbarer Zukunft in Frankreich bleiben, werde ich mich zu Dir gesellen. Ich spare schon das Geld. Inzwischen wirst Du von unseren Eltern erfahren haben, dass ich die Schule verlassen habe. Ich wohne jetzt in Budapest und arbeite als Schaufensterdekorateur. Das ist ein guter Beruf. Ich verdiene 20 Pengő die Woche. Mein bester Kunde ist ein Herrenausstatter auf der Molnár utca. Ich hatte von einem Freund erfahren, dass der alte Dekorateur aufgehört hatte, deshalb ging ich am nächsten Tag hin und bot meine Dienste an. Man sagte mir, ich könne das Schaufenster zur Probe dekorieren. Ich entschied mich für eine Jagdszene: zwei Reitkostüme, ein Mantel, vier Krawatten, eine Pferdedecke, ein Hut, ein Jagdhorn. Nach einer Stunde war ich fertig, und noch eine Stunde später waren alle Artikel aus dem Schaufenster verkauft. Sogar das Horn.
Budapest ist großartig. Ich habe hier viele Freunde und vielleicht sogar eine Freundin. Außerdem einen umwerfenden Tanzlehrer, einen amerikanischen Neger, der sich Kid Sneeks nennt. Vor einem Monat sah ich ihn im Goldenen Hut mit seiner Stepptanztruppe, den Five Hot Shots. Nach der Vorstellung blieb ich noch, um den Star persönlich kennenzulernen. Mithilfe meiner Freundin, die ein bisschen Englisch spricht, teilte ich ihm mit, dass ich auch tanzen würde, und bat ihn, mich als Schüler zu nehmen. Er sagte: Let’s see what you can do. Ich zeigte ihm alles. Auf der Stelle gab er mir den englischen Spitznamen Lightning und war einverstanden, mir Unterricht zu geben, solange er in Budapest ist. Und seine Vorstellung ist so beliebt, dass sie noch über einen Monat weiterläuft!
Ich weiß, dass Du mit mir schimpfen wirst, weil ich das Gimnázium geschmissen habe, aber glaub mir, ich bin jetzt glücklicher. Ich habe die Schule gehasst. Die Lehrer bestraften mich ständig für mein schlechtes Benehmen. Die anderen Jungen waren Dummköpfe. Und dann Debrecen! Was für ein Ort! Weder Land noch Stadt, weder modern noch malerisch, weder meine Heimat noch ein Ort, den ich zu meiner Heimat machen will. In Budapest gibt es ein besseres jüdisches Gimnázium. Wenn es geht, werde ich meine Zeugnisse hier anerkennen lassen und meinen Schulabschluss nachholen. Dann werde ich zu Dir nach Paris kommen und auf die Bühne gehen. Wenn Du nett zu mir bist, bringe ich Dir vielleicht das Steppen bei.
Mach Dir keine Sorgen um mich, Bruderherz. Mir geht es gut. Ich freue mich, dass es Dir auch gut geht. Heirate nicht, bevor ich da bin. Ich will der Braut bei der Hochzeit einen Kuss geben.
Alles Liebe,
Dein MÁTYÁS
Immer wieder las Andras den Brief. Ich will meinen Schulabschluss machen. Komme zu Dir nach Paris. Gehe auf die Bühne. Wie konnte Mátyás glauben, dass er irgendetwas davon tatsächlich tun könnte, wenn Europa in den Krieg zog? Las er keine Zeitung? War er der Ansicht, dass die Probleme in Europa mit Stepptanz gelöst werden konnten? Was sollte Andras ihm bloß antworten?
Er hörte Schritte im Korridor; es war mitten in der Nacht, und er hatte sich mit niemandem verabredet. Ohne nachzudenken, öffnete er seinen Griffelkasten und schnappte sich sein Anspitzmesser. Doch dann nahmen die Schritte einen vertrauten Klang an, und vor ihm stand Professor Vago in Abendkleidung und lehnte sich gegen den Türrahmen.
»Es ist drei Uhr morgens«, sagte Vago. »Wenn Sie Ihre Post lesen wollen, warum tun Sie das nicht zu Hause?«
Andras zuckte mit den Schultern und grinste. »Hier ist es wärmer«, sagte er. Und fügte angesichts Vagos Aufmachung mit erhobener Augenbraue hinzu: »Netter Smoking.«
Vago zupfte an den Aufschlägen. »Das ist mein letzter Anzug, der keine Tinten- oder Kohleflecken hat.«
»Sie sind also hergekommen, um sich mit Tinte zu beschmieren.«
»So ähnlich.«
»Was haben Sie gemacht, waren Sie in der Oper?«
Vago pflückte die Rose aus seinem Knopfloch und drehte sie langsam und nachdenklich. »Ich war mit Madame Vago tanzen, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Sie mag so etwas. Aber sie wird immer müde, bevor es dämmert, während ich nach dem Tanzen einfach nicht schlafen kann.« Er ging zur Werkbank und beugte sich über Andras’ Zeichnungen. »Sind die für den Wettbewerb?«
»Ja. Polaner hat damit angefangen. Ich soll sie fertigstellen.«
»Das war klug, eine Gruppe mit ihm zu
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