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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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rechnen. Nachdem die Slowakei fort war, existierte das Land, das Großbritannien und Frankreich versprochen hatten zu schützen, nicht mehr. Aber irgendwie denkt man immer, diese Gräueltaten können doch nicht ewig so weitergehen. Es muss aufhören oder aufgehalten werden.
Hier gab es natürlich großes Gejubel aus dem rechten Flügel, als die Karpatenukraine an Ungarn zurückfiel. Was uns gestohlen wurde, soll wieder uns gehören, und so weiter. Du weißt, dass ich ein Veteran des Großen Krieges bin und einen gewissen Nationalstolz besitze. Doch inzwischen wissen wir doch alle, was hinter dem Wunsch der Fahnenschwenker nach Rehabilitation steckt.
Ungeachtet all dieser schlechten Nachrichten sind Deine Mutter und ich einer Meinung mit Professor Vago. Du darfst nicht zulassen, dass die jüngsten Ereignisse Dich von Deinem Studium ablenken. Du musst an der Schule bleiben. Wenn Du heiraten willst, musst Du einen Beruf haben. Bis jetzt hast Du Dich gut gemacht, Du wirst ein guter Architekt werden. Und in Frankreich bist Du vielleicht sicherer als in Ungarn. Ich wäre auf jeden Fall sehr böse, wenn Du wegwerfen würdest, was Dir geschenkt wurde. So eine Gelegenheit bekommt man nur einmal.
Wie streng ich mich anhöre! Du weißt, ich sende Dir alles Liebe. Ich habe einen Brief von Deiner Mutter beigelegt.
APA
Mein lieber Andráska,
hör auf Deinen Apa! Und halte Dich warm! Du hast im März oft Fieber bekommen. Und schick mir die Fotografien von Deiner Klara! Du hast es versprochen. Ich nehme Dich beim Wort.
Alles Liebe,
ANYA
    Jeder Brief war eine Sprengladung von Nachrichten und Liebe, die Andras an die Sterblichkeit seiner Eltern erinnerte. Dass sie zwei weitere Winter in Konyár überlebt hatten, ohne Schaden zu nehmen oder krank zu werden, trug kaum zur Linderung seiner Sorgen bei; jeder Winter brachte größere Gefahr mit sich. Unentwegt musste Andras an seine Eltern denken, während eine schlechte Nachricht die nächste jagte, eine wahre Flut, das ganze Frühjahr über. Ende März näherte sich der blutige Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs seinem Ende; die republikanische Armee kapitulierte am Morgen des 29., und am 1. April verkündete Franco den Sieg. Es war der Beginn der von Hitler und Mussolini gewünschten Diktatur, das wusste Andras – und damit der Grund, warum sie ihre Waffen und Truppen in den Hochofen jenes Krieges geschickt hatten. Andras überlegte, ob es diese beiden Erfolge waren – die Aufsplitterung der Tschechoslowakei und Francos Triumph in Spanien –, durch die Hitler im April den Mut bekam, sich dem amerikanischen Präsidenten entgegenzustellen. Alle Zeitungen berichteten darüber: Am 15. des Monats schickte Roosevelt ein Telegramm an Hitler, in dem er die Zusicherung forderte, dass Deutschland in den nächsten Jahren keines der Länder angreifen oder besetzen würde, die auf einer Liste einunddreißig unabhängiger Staaten aufgeführt wurden – darunter Polen, durch das Hitler einen Autobahn- und Eisenbahnkorridor bauen wollte, um Deutschland mit Ostpreußen zu verbinden. Nach zwei Wochen des Hinhaltens reagierte Hitler. In einer Rede vor dem Reichstag verunglimpfte er das deutsch-britische Flottenabkommen, zerriss den polnisch-deutschen Nichtangriffspakt und machte Roosevelts Telegramm in jedem Punkt lächerlich. Zum Schluss beschuldigte er Roosevelt, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, während er, Hitler, sich lediglich um das Schicksal seiner eigenen kleinen Nation kümmere, die er bereits vor der Schmach und dem Ruin von 1919 gerettet habe.
    Diskussionen tobten in den Gängen der École Spéciale. Rosen war nicht der Einzige, der glaubte, dass Europa mit Sicherheit in den Krieg ziehen würde. Ben Yakov war nicht der Einzige, der behauptete, der Krieg sei immer noch abzuwenden. Jeder hatte eine Meinung. Andras teilte die von Rosen – er sah einfach keinen anderen Ausweg aus dem Netz, in das Europa geraten war. Wenn er sich mit Polaner über ihre Entwürfe beugte, musste er an die Erzählungen seines Vaters vom Großen Krieg denken – an den Gestank und das Blutvergießen, an den Albtraum, wenn Geschosse und Feuer auf die Fußsoldaten niederregneten, an den Aufruhr, den Hunger und Dreck der Schützengräben, an das Wunder, mit dem eigenen Leben davongekommen zu sein. Wenn es Krieg gäbe, würde Andras kämpfen. Nicht für sein Vaterland; denn Ungarn würde an der Seite seines Verbündeten Deutschland streiten, der ihm nicht nur die Karpatenukraine, sondern auch das durch

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