Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
des Écoles gehen, sich ins Bett legen und schlafen. Aber er konnte nicht so tun, als hätte er nicht gehört, was Ben Yakov gerade gesagt hatte.
»Du betrügst sie?«, fragte er. »Wann?«
»Ständig. Wann immer sie mich sehen will. Lucia meine ich natürlich. Von der Schule.« Ben Yakovs Stimme war fast zu einem Flüstern geworden. »Ich habe nie damit aufhören können. Selbst heute Morgen kam sie raus und setzte sich zu mir in den Park, während du bei meiner Frau gewacht hast. Ich bin verliebt, glaube ich, oder etwas ähnlich Schreckliches. So geht es mir, seitdem ich sie kenne.«
In Andras stieg eine Welle der Empörung auf. Er dachte an das Mädchen im Krankenhausbett. »Wenn du sie liebst, warum hast du dann Ilana geheiratet?«
»Ich dachte, sie könnte mich davon heilen«, sagte Ben Yakov. »Als ich sie in Florenz kennenlernte, dachte ich nicht mehr an Lucia. Ilana machte mich glücklich. Außerdem war ihre Unantastbarkeit erregend, auch wenn ich mich schäme, das zuzugeben. Ich dachte, bei ihr könnte ich ein anderer Mensch werden, und eine Zeit lang war ich das auch.« Ben Yakov senkte den Blick. »Die Aussicht, sie zu heiraten, fand ich aufregend. Ich wusste, dass ich Lucia nie heiraten würde. Zum einen will sie es selbst nicht. Sie will Architektin werden und um die ganze Welt reisen. Zum anderen ist sie … une negresse . Meine Eltern, weißt du. Das ginge nicht.«
Andras dachte an den Kommilitonen, der auf dem Friedhof überfallen worden war, den Mann von der Elfenbeinküste. Diese Art von Engstirnigkeit war eigentlich typisch für die andere Seite. Aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Hatte nicht auch Andras wegen Lucias Hautfarbe Vorbehalte gehabt, mit ihr zu sprechen, und war nicht auch er gleichzeitig unerklärlich erregt gewesen? Was wäre gewesen, wenn er sich in sie verliebt hätte? Hätte er sie heiraten können? Hätte er sie seinen Eltern vorstellen können? Er legte eine Hand auf Ben Yakovs Schulter. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ehrlich.«
»Ich bin selbst schuld«, gab Ben Yakov zurück. »Ich hätte Ilana niemals heiraten dürfen.«
»Du solltest jetzt ein bisschen schlafen«, sagte Andras. »Heute Nachmittag musst du sie wieder besuchen.«
Ein Feuersteinfunke der Angst blitzte in Ben Yakovs Augen auf. Andras kannte ihn; er hatte ihn ungezählte Male beim Schlafengehen im Gesicht seines kleinen Bruders gesehen, kurz bevor Andras die Kerze löschte. Es war die Angst eines Kindes, das im Dunkel nicht allein gelassen werden wollte. Ungezählte Male hatte Andras sich neben Mátyás gelegt und seinem Atem gelauscht, bis er eingeschlafen war. Doch er und Ben Yakov, sie waren erwachsen; der Trost, den sie sich gegenseitig spenden konnten, war endlich. Ben Yakov bedankte sich abermals und wandte sich zur Tür, um sie aufzuschließen.
Das zweite Ereignis in jenem Monat – das zweite, was wichtig genug war, um Andras’ Aufmerksamkeit von den zunehmend düsteren Schlagzeilen abzulenken – war die Abschlussphase des Architekturwettbewerbs. Nach einer Woche voll schlafloser Nächte, in denen Andras unter Übelkeit, Halluzinationen und dem schwindelerregenden Schauder von Geistesblitzen in letzter Minute litt, fanden Polaner und er sich im überfüllten Amphitheater wieder, wo sie darauf warteten, ihr Projekt den Juroren vorzustellen. Professor Vago hatte Monsieur Lemain angeboten, die dreiköpfige Jury zu leiten. Die Identität der anderen beiden Juroren war bis zum Tag der Preisverleihung geheim gehalten worden. Es stellte sich heraus, dass es sich um niemand Geringeres als Le Corbusier und Georges-Henri Pingusson handelte. Le Corbusier sah aus, als komme er direkt von der Baustelle; seine Hose war weiß von Gips, und das verschwitzte Arbeitshemd wirkte wie ein stiller Vorwurf an Lemain in seinem untadeligen schwarzen Anzug und Pingusson in seinem blassgrauen Nadelstreifensakko. Perret, der dem Wettbewerb vorsaß, hatte seinen Schnurrbart zu steifen Spitzen gewachst und seinen dramatischsten Militärmantel übergeworfen. Die Juroren drehten langsam eine Runde durch den Raum, begutachteten die Modelle auf den Ausstellungstischen und die Entwürfe, die an Korkwänden entlang der Wand des Amphitheaters hingen. Die Studenten folgten ihnen respektvoll.
Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es einen grundlegenden Meinungsunterschied zwischen Le Corbusier und Pingusson gab. Was der eine von sich gab, tat der andere als puren Blödsinn ab. Irgendwann ging Le Corbusier so
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