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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Schmerzensschrei aus und bewegte die Hüften unter der Bettdecke.
    Andras sah sich nach einer Krankenschwester um. Drei Betten weiter kümmerte sich eine weißhaarige Frau mit steifem Käppchen um ein anderes leichenblasses Mädchen. »S’il vou plaît«, rief Andras.
    Die Schwester eilte herbei und untersuchte Ilana. Sie fühlte ihren Puls und warf einen Blick auf die Kurve am Fußende des Bettes. »Einen Moment«, sagte sie und lief durch den Krankensaal; eine Minute später kehrte sie mit einer Spritze und einem Glasfläschchen zurück. Ilana schlug die Augen auf und sah sich betäubt vor Schmerz um. Sie schien etwas zu suchen. Als ihr Blick auf Andras fiel, wurde er klarer, und eine leichte Röte stahl sich auf ihre Lippen.
    »Sie sind es«, sagte sie auf Italienisch. »Sie sind den ganzen Weg von Modena gekommen.«
    »Ich bin’s, Andras«, sagte er. »Es wird alles gut.«
    Die Krankenschwester entblößte Ilanas Schulter und betupfte sie mit Alkohol. »Ich gebe ihr jetzt Morphium gegen die Schmerzen«, erklärte sie. »Dann geht es ihr gleich schon besser.«
    Ilana atmete heftig ein, als die Nadel in sie drang. »Tibor«, sagte sie und blickte Andras wieder an. Dann fand das Morphium an sein Ziel, ihre Augenlider flatterten und schlossen sich.
    »Gehen Sie nach Hause«, sagte die Krankenschwester. »Wir kümmern uns um Ihre Frau. Sie muss sich ausruhen. Sie können sie gerne heute Nachmittag besuchen.«
    »Das ist nicht meine Frau«, gab Andras zurück. »Sie ist eine Freundin. Ich habe ihrem Mann versprochen, dass ich so lange bei ihr bleibe, bis er zurückkommt.«
    Die Schwester hob eine Augenbraue, als stimme etwas nicht mit Andras’ Erklärung, und kehrte zu ihrer Patientin drei Betten weiter zurück.
    In den Fenstern blutete der Himmel langsam dem Blau entgegen. Die Stille im Krankensaal schien sich noch weiter auszudehnen, während Andras Ilana betrachtete, deren Brust sich unter der Decke hob und senkte. Die Arznei hatte sie in eine durchsichtige Schlafkapsel eingeschlossen, wie die Prinzessin im Märchen, Hófehérke – auf Französisch musste sie Blanche-Neige heißen –, die verbannte Prinzessin, die in ihrem Glassarg auf dem Hügel schlief, während die kleinen Männlein, die törpék , bei ihr Wache hielten. Andras musste wieder an das Marot-Gedicht denken, das er aus Klaras Buch geschnitten hatte. Denn wenn Feuer wohnt heimlich im Schnee, wie soll ich mich nicht verbrennen? Er war froh, dass Ben Yakov nicht da gewesen war, als Ilana gesprochen hatte, dass er nicht gesehen hatte, wie ihre Lippen Farbe bekamen, als sie glaubte, es sei Tibor, der an ihrem Bett wachte.
    Vierzig Minuten später kehrte Ben Yakov zurück, er duftete nach frisch gemähtem Gras, der Rücken seines Pyjamahemds war feucht von Tau. Er nahm seine Mütze ab und glättete sein Haar.
    »Wie geht es ihr?«
    »Besser«, sagte Andras. »Die Krankenschwester hat ihr Morphium gespritzt.«
    »Komm, geh nach Hause«, sagte Ben Yakov. »Ich bleibe bei ihr, bis sie aufwacht.«
    »Wir sollen beide gehen. Die Krankenschwester sagt, sie müsse ruhen. Wir könnten heute Nachmittag wiederkommen.«
    Ben Yakov widersprach nicht. Er strich über Ilanas blasse Stirn und ließ sich von Andras aus dem Krankensaal führen. Auf dem Rückweg ins Quartier Latin gingen sie schweigend, die Hände in die Taschen geschoben. Andras fand, es sei ein besonders grausamer Morgen, um ein Kind zu verlieren: Ein lehmig-feuchter Duft stieg aus den Blumenkästen und von den Beeten im Park auf; die Äste der Kastanien saßen voll mit kleinen nassen Blättern. Andras brachte Ben Yakov bis zum Eingang seines Mietshauses, dort standen sie sich auf dem Bürgersteig gegenüber.
    »Du bist ein guter Freund«, sagte Ben Yakov.
    Andras zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. »Ich habe doch nichts gemacht.«
    »Sicher hast du. Du und Klara, ihr beide.«
    »Das hättest du auch für uns getan.«
    »Ich bin kein besonders guter Freund«, sagte Ben Yakov. »Und ein noch schlimmerer Ehemann.«
    »Sag das nicht.«
    »Menschen wie mir sollte man nicht erlauben zu heiraten.« Selbst nach einer Nacht im Krankenhaus und einer Stunde Schlaf auf der Parkbank war Ben Yakov auf seine hagere, filmische Art elegant. Doch er verzog den Mund zu einer Grimasse des Selbstekels. »Ich vernachlässige sie«, sagte er. »Und, ehrlich gesagt, betrüge ich sie auch.«
    Andras benutzte den Schuhabtreter neben dem Eingang. Er wollte nichts mehr hören. Er wollte sich abwenden und heim in die Rue

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