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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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weit, Pingusson mit seinem Stift in die Brust zu stechen; daraufhin schrie Pingusson ihm geradewegs ins gerötete Gesicht. Auslöser des Streits war ein Paar dianagleicher Karyatiden am Eingang eines Sportclubs für Frauen, den zwei Studentinnen aus dem vierten Jahr entworfen hatten. Le Corbusier erklärte die Karyatiden zu neoklassizistischem Kitsch. Pingusson sagte, er fände sie äußerst elegant.
    »Elegant!«, fauchte Le Corbusier. »Das hätten Sie dann auch von Speers Kolossen auf der Weltausstellung behaupten können! Da war auch jede Menge mittelmäßiger Neoklassizismus zu sehen.«
    »Verzeihen Sie bitte«, sagte Pingusson. »Aber wollen Sie damit andeuten, dass wir die Griechen und Römer einfach vergessen sollen, nur weil die Nazis sich ihrer bedienen? Sich ihrer bemächtigt haben, möchte ich sagen.«
    »Alles muss im Zusammenhang gesehen werden«, gab Le Corbusier zurück. »Bei der jetzigen politischen Lage erscheint mir diese Entscheidung unhaltbar. Obwohl wir das den jungen Damen vielleicht durchgehen lassen sollten, weil sie ja schließlich nur Damen sind.« Die letzten Worte unterstrich er mit mehreren Stechattacken in Richtung von Pingussons Brust.
    »Dummes Zeug!«, rief Pingusson. »Wie können Sie es wagen, mich als Chauvinist hinzustellen? Wenn Sie diese Entscheidung als Kitsch abtun, leugnen Sie dann nicht kategorisch die Tradition weiblicher Macht in der klassischen Mythologie?«
    »Ein guter Punkt«, sagte Lemain. »Und da Sie beide so aufgeklärt sind, meine Herren, könnten wir doch die Damen selbst bitten, ihre Entscheidung zu erläutern, oder?«
    Die größere der Studentinnen – sie hieß Marie-Laure – führten in klarem, knappem Französisch aus, dass es sich nicht um normale Karyatiden handele; sie seien nach Suzanne Lenglen gestaltet, der kürzlich verstorbenen französischen Tennislegende. Dann erläuterte sie weitere Aspekte des Entwurfs, doch Andras verlor den Faden. Als Nächstes waren Polaner und er an der Reihe; auf der anderen Seite stand Rosen mit einem Blick interessierter Abgeklärtheit. Er musste sich keine Sorgen machen; er nahm nicht am Wettbewerb teil. Rosen war zu stark mit den Treffen der Ligue Contre L’Antisémitisme beschäftigt gewesen, zu deren Schriftführer er vor Kurzem gewählt worden war.
    Viel zu schnell für Andras’ Geschmack war die Beurteilung des Frauensportclubs abgeschlossen, und die Jury zog weiter. Die Studenten sammelten sich hinter den Juroren um den Tisch, auf dem das Modell von Andras und Polaner stand.
    »Stellen Sie Ihr Projekt vor, meine Herren«, sagte Perret mit einer auffordernden Handbewegung.
    Polaner sprach als Erster. Er zupfte am Saum seiner Jacke und begann in seinem polnisch gefärbten Französisch, die Notwendigkeit eines für alle offenen Sportclubs darzulegen, einer Einrichtung, die die Gründungsprinzipien der Republik symbolisierte. Die Gestaltung sei an der Zukunft orientiert; die Baumaterialien seien in erster Linie bewehrter Beton, Glas und Stahl; Einfassungen aus dunklem Holz rahmten Türen und Fenster.
    Er hielt inne und schaute zu Andras herüber, der als Nächster an der Reihe war. Andras öffnete den Mund und stellte fest, dass sein Französisch verschwunden war. An seiner Stelle war eine erstaunliche Leere, ein Buch ohne ein einziges Wort.
    »Was ist, junger Mann?«, fragte Le Corbusier. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«
    Andras, der seit drei Tagen nicht geschlafen hatte, hatte eine kurze Halluzination. Die Zeit verlangsamte sich zu einem schildkrötengleichen Kriechen. Er beobachtete, wie Le Corbusier hinter den gipsbefleckten Gläsern seiner Brille blinzelte, ein Vorgang, der eine Ewigkeit zu dauern schien. Im hinteren Teil des Amphitheaters entfesselte jemand ein orkanartiges Husten.
    Vielleicht hätte Andras seine Stimme nie wiedergefunden, wäre ihm nicht Pierre Vago, der Zeremonienmeister, zu Hilfe geeilt. Immerhin hatte Vago ihm die Sprache beigebracht, die er jetzt sprechen sollte; er kannte die Worte, die Andras entspannen mochten. »Beginnen Sie doch mit der piste «, sagte er. Piste: Laufbahn, das französische Wort für pálya . Vor zwei Tagen erst hatten sie sich im Atelier darüber unterhalten: Wie man auf Französisch Laufbahn sagte, und inwiefern sich das Wort von anderen mit der Bedeutung Weg, Pfad, Gleis und Spur unterschied. Andras konnte über die piste sprechen; sie war das ungewöhnlichste Element ihres Entwurfs, ein spätnächtlicher kreativer Einfall. »La piste«, begann er,

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