Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
geht alles auf mich«, sagte Polaner. »Hast du von der polnischen Flagge gehört?«
»Ich habe gehört, dass sie vorschriftsgemäß ersetzt werden soll«, erwiderte Ben Yakov. »Angeblich haben sie sich eine neue ausgedacht, Schwarz und Weiß auf rotem Grund. Ganz schön hässlich, wenn ihr mich fragt.« Er leerte sein Glas und füllte es nach. »Ihr könnt mir gratulieren, Jungs, ich habe gleich ein Treffen mit dem Rabbiner.«
Noch nie hatten sie Ben Yakov in der Öffentlichkeit betrunken gesehen. Seine hübschen Lippen waren in den Mundwinkeln verzogen, als hätte jemand versucht, sie auszuradieren.
»Ein Treffen mit dem Rabbiner?«, fragte Rosen. »Warum sollen wir dir dazu gratulieren?«
»Weil es mich zu einem freien Mann machen wird. Ich werde mich scheiden lassen.«
»Was?«
»Eine gute, alte jüdische Scheidung. Die ist nämlich möglich, weil der Arzt uns bescheinigt hat, dass Ilana unfruchtbar ist. Das heißt, wir haben das Recht dazu. Ist das nicht wahrhaft ritterlich? Sie kann keine Kinder bekommen, deshalb darf ich sie fallen lassen.« Er beugte sich über sein Glas und rieb sich die Augen. »Trinkt ihr einen mit?«
Das alles war Andras nicht neu. Im vergangenen Monat war Ilana wieder unter Klaras Dach gezogen und hatte die andere Hälfte von Klaras Bett belegt. Klara hatte angeboten, sich um sie zu kümmern, während Ilana sich erholte; als sie das Krankenhaus verlassen hatte, war sie direkt zur Rue de Sévigné gegangen, nicht nach Hause. Es gehe ihr schlecht, sagte sie Klara; sie habe eingesehen, dass Ben Yakov sie nicht liebe, zumindest nicht so wie zuvor. Sie wüsste, dass er sich durch ihre Ehe eingesperrt fühle. Schon lange vermute sie, dass er sich mit einer anderen träfe. Wenn Ben Yakov seine Frau bei Klara besuche, säßen sie zusammen im Vorderzimmer und redeten kaum ein Wort; was gäbe es auch zu sagen? Oft war Ilana untröstlich vor Kummer über das Kind, ein Kummer, den Ben Yakov zu seiner eigenen Überraschung teilte; auch er trauerte, sagte Klara, jedoch eher um den Verlust einer bestimmten Vorstellung von sich selbst. Außerdem stand die unbeantwortete Frage im Raum, wie es für Ilana weitergehen sollte. Das Leben jenseits ihrer Genesung war ein leeres Blatt. Es gab nichts mehr, das sie in Paris hielt, doch sie wusste nicht, wie ihre Eltern es aufnähmen, wenn sie nach Hause zurückkehren würde. Ilanas Briefe waren unbeantwortet geblieben.
Andras hatte Ilanas Situation in seinen Briefen an Tibor nicht erwähnt. Er hatte nicht gewollt, dass sich sein Bruder Sorgen machte, und ihm auf der anderen Seite ebenso wenig Hoffnung machen wollen. Doch eine Woche zuvor hatten sich Ben Yakov und Ilana bei Klara getroffen, um darüber zu sprechen, wie sie ihrer Ehe ein Ende machen könnten. Ilana erklärte Ben Yakov, sie würden vielleicht geschieden werden, wenn der Arzt bescheinigte, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne. Es war nicht klar, ob das wirklich der Fall war, aber man könnte den Arzt eventuell überreden, das zu behaupten. Ben Yakov war einverstanden gewesen, diesen Weg einzuschlagen. Als diese Entscheidung gefallen war, waren sie beide in gewisser Weise erleichtert gewesen. Mit Ilanas Gesundheit ging es wieder bergauf, und Ben Yakov besuchte wieder das Atelier, um die Arbeit aufzuholen, die er im Frühjahr vernachlässigt hatte. Doch da das erste Gespräch mit dem Rabbiner nun näher rückte, knickte Ben Yakov ein. Die mögliche Scheidung würde bald Realität werden, ein Beweis dafür, welch ein Fiasko er aus Ilanas Leben und seinem eigenen gemacht hatte.
Als die vier zusammen tranken, machte Ben Yakov reinen Tisch, ohne sich zu schämen. Nicht nur seine Ehe mit Ilana war entzweigegangen; auch die schöne Lucia hatte ihn, des Wartens müde, verlassen. Sie verbrachte den Sommer als Praktikantin eines hervorragenden Architekten in New York, und es wurde gemunkelt, er habe sich in sie verliebt, eventuell würde sie die École Spéciale verlassen und auf eine Hochschule für Gestaltung nach Rhode Island wechseln. Die Gerüchte waren über gemeinsame Freunde nach Paris gelangt. Lucia selbst hatte Ben Yakov nicht mehr geschrieben, seit sie Paris verlassen hatte.
Als sie am Ende des Abends auf dem Bürgersteig vor dem La Colombe Bleue standen, bot Andras an, Ben Yakov nach Hause zu bringen. Rosen und Polaner hatten ihrem unglücklichen Genossen auf den Rücken geklopft und der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass es ihm am nächsten Morgen besser gehen würde.
»Ach, mir
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