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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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haben.«
    »Aber dieser Entwurf«, sagte Andras und zwickte in die schwebende Laufbahn, »ist doch abwegig, nicht? Le Corbusier hatte recht, als er sagte, so etwas könnte nie gebaut werden.«
    »Vielleicht nicht in Paris«, sagte Vago. »Vielleicht nicht in diesem Jahrzehnt. Aber Le Corbusier hat sich Notizen und Skizzen für ein Projekt in Indien gemacht, und er meinte, er würde gerne einmal mit Polaner und Ihnen ein paar Ideen austauschen.«
    Andras blinzelte ihn ungläubig an. »Er will Ideen mit uns austauschen?«
    »Warum nicht? Die besten Ideen stammen oft aus dem Klassenzimmer. Schließlich schlagen Sie sich nicht seit Jahren mit Planungsausschüssen, Baubehörden und Nachbarschaftsinitiativen herum. Ihnen fällt am ehesten etwas Unmögliches ein, und genau so entstehen die interessantesten Gebäude.«
    Andras drehte die Medaille in seinen Händen. Die Beleidigungen der älteren Studenten waren noch frisch in seinem Kopf, in seinen Schläfen pochte das Adrenalin.
    »Es wird immer Neider geben, die Sie demütigen wollen«, sagte Vago. »Das liegt im Wesen des Menschen.«
    »Eine feine Gattung sind wir«, sagte Andras.
    »Allerdings. Wir sind nicht zu retten. Irgendwann werden wir uns selbst zerstören. Doch bis dahin brauchen wir ein Dach über dem Kopf, und deshalb werden Architekten immer etwas zu tun haben.«
    In dem Moment tauchte Rosen im Eingang des Amphitheaters auf. »Wo bleibst du?«, rief er. »Der Fotograf wartet!«
    Vago legte Andras eine Hand auf die Schulter und führte ihn in den Hof, wo sich mehrere Personen in einer grasbewachsenen Ecke versammelt hatten. Die Juroren waren nach draußen gekommen, um sich mit den Gewinnern ablichten zu lassen; Polaner stand zwischen Le Corbusier und Pingusson, eine feierliche Miene in seinem blassen, jungenhaften Gesicht, und neben ihnen stand Lemain, stolz und ernst. Der Fotograf stellte Andras neben Le Corbusier und an seine andere Seite Vago. Andras rückte die Medaille um seinen Hals zurecht und drückte die Schultern nach hinten. Als er in die Kameralinse sah und sich entspannen wollte, merkte er, dass Noirlac und Frédéric ihn beobachteten, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie erinnerten ihn an eine der großen Wahrheiten in seinem Leben: dass jedem Moment des Glücks eine Mahnung an Bitternis und Tragödie innewohnte, wie die zehn Plagen, die aus dem Pessach-Becher tropfen, oder der Wermutgeschmack von Absinth, der auch durch noch so viel Zucker nicht übertüncht werden konnte. Und aus diesem Grund würde er diese Fotografie, auch wenn sie die einzige war, die je von ihm an der École Spéciale gemacht würde, niemals aufhängen. Wenn er sie betrachtete, sah er nichts anderes als seine eigene Wut und deren Ursache, die ihn aus dem Publikum anstarrte.
    In jenem Sommer war das Schicksal der Hansestadt Danzig unentwegt Gesprächsthema. In den Zeitungen stand, Deutschland schmuggle Waffen und Truppen über die Grenze; Beamte des Reichs bildeten die Nazis vor Ort angeblich in Kriegsmanövern aus. Während Großbritannien und Frankreich eine Vereinbarung mit Russland über gegenseitige militärische Unterstützung hinauszögerten, wurde im Rundfunk von Gerüchten über eine engere Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau berichtet. Anfang Juli versprach Chamberlain Polen die Hilfe Großbritanniens, falls Danzig bedroht werde, und am Unabhängigkeitstag quollen die Champs-Élysées über vor französischen und britischen Panzern, Panzerkampfwagen und Artillerie. Zwei Tage später wehte geheimnisvollerweise die polnische Flagge über dem Amtssitz des Deutschen Reichs in Breslau. Wie dieser Akt des Widerstands zustande gekommen war, wusste niemand; in dem Gebäude musste es vor Wachleuten nur so gewimmelt haben. Polaner, der den ganzen Sommer lang von seinen Eltern einen sorgenvollen Brief nach dem nächsten bekommen hatte, war krank von all den schlechten Nachrichten. Doch als er diese wenn auch unbedeutende Neuigkeit erfuhr, lud er die anderen ein, im La Colombe Bleue etwas mit ihm zu trinken. Es war ein warmer Julinachmittag, die Straßen waren noch verdreckt vom Müll des Unabhängigkeitstages, die Bürgersteige verschmutzt mit fettigen Tüten, leeren Flaschen und kleinen französischen und britischen Wimpeln. Als sie das Colombe Bleue erreichten, saß Ben Yakov bereits mit einer Flasche Whisky an einem Tisch. Ein Ausdruck alkoholmilder Resignation lag auf seinem Gesicht.
    »Guten Tag, meine Lieben«, sagte er. »Trinkt eine Runde auf mich.«
    »Heute

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