Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
stehen; sie kam ihm vor wie eine Penelope, die jede Nacht ihre Arbeit vernichtete, damit Elisabet niemals würde heiraten können. Es mache ihr Angst, gestand sie ihm, sich vorzustellen, wie Elisabet über den Atlantik fuhr, während Europa am Rande des Krieges stand. Könnte Elisabet nicht wenigstens noch ein paar Monate warten, bis sich die Lage in Polen beruhigt hätte und die Probleme des englisch-französischen Beistandspakts mit Russland gelöst wären? Müssten Paul und Elisabet unbedingt im August in See stechen, dem Monat, in dem damals der erste große Krieg ausgebrochen war? Doch Elisabet befürchtete, dass Frankreich, wenn sie warten würden, vielleicht wirklich in den Krieg einträte; damit würde die Reise unmöglich. Dieses Thema hatte zu Streitereien geführt, die Klara und Elisabet an den Rand eines emotionalen Zusammenbruchs brachten. Andras hatte das Gefühl, dass es die letzte große Gelegenheit für beide war, ihre Liebe auf die Art zu zeigen, in der sie sich jahrelang geübt hatten, nämlich durch Auseinandersetzungen, bei denen keine nachgab und keine gewinnen konnte, durch Konflikte, deren Auslöser nicht das vorgebliche Thema war, sondern die komplizierte Natur der Mutter-Tochter-Beziehung selbst.
In den seltenen Nächten, wenn Klara in jenen Wochen zu Andras in die Dachkammer kam, liebte sie ihn mit einer Verbissenheit, die überhaupt nichts mit ihm zu tun zu haben schien. Nie hätte er sich vorstellen können, in ihren Armen so einsam zu sein; er wollte, dass ihr leerer Blick an ihm hängen blieb. Als er sie einmal zum Innehalten zwang und sagte: »Sieh mich an!«, rollte sie von ihm fort und brach in Tränen aus. Dann entschuldigte sie sich, und er hielt sie fest, ohne den egoistischen Wunsch unterdrücken zu können, dass es hoffentlich bald vorbei sei. Jenseits von Elisabets Abreise wartete die Erfüllung des Versprechens, das sie sich im Herbst gegeben hatten: Auch sie würden heiraten und endlich zusammenleben. In ihrer Trauer um den Verlust ihres Kindes hatte Klara aufgehört, über das zu sprechen, was geschehen würde, wenn Elisabet fort war.
21. Juli 1939
Modena
Lieber Andras,
es tut mir leid, unglaublich leid zu hören, dass die Ehe zwischen Ilana und Ben Yakov ein so trauriges Ende genommen hat. Es bekümmert mich, wenn ich an die Rolle denke, die ich möglicherweise bei ihrem Unglück gespielt habe. Wenn Reue diesen Fehler wieder gutmachen könnte, wäre es schon längst geschehen.
Als ich Deinen Brief erhielt, dachte ich zuerst, ich könnte auf gar keinen Fall nach Paris kommen. Wie sollte ich Ilana gegenübertreten, fragte ich mich, da ich doch wusste, wie ich sie entehrt hatte? Liebe verlangt, zum Ausdruck zu kommen; sie sagt uns, sie sei richtig, einfach nur weil sie Liebe ist. Doch wir sind Menschen und müssen entscheiden, was Recht und was Unrecht ist. Meine Gefühle für Ilana waren so heftig, dass ich nicht in der Lage gewesen bin, sie zu beherrschen. Ich habe kaum eine zweite Chance verdient, um mich als ihr Freund zu erweisen, weniger noch, um mich als Liebhaber zu empfehlen.
Aber, Andráska – und vielleicht hältst Du mich für einen Lump, wenn ich das sage –, ich weiß, dass meine Gefühle für sie unverändert sind. Wie mein Herz klopfte, als ich las, dass sie nach mir gefragt hatte! Wie es mich bewegte zu erfahren, dass sie voller Zärtlichkeit von mir gesprochen hatte! Du kennst mich zu gut, um diese Dinge leichthin erwähnt zu haben; Du musst gewusst haben, was sie mir bedeuten würden.
Und deshalb werde ich doch kommen. Ich schäme mich, aber ich komme. Zumindest wirst Du niemals Grund haben, an meiner Treue zu zweifeln; ebenso wenig soll es Ilana, hoffe ich. Wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich bereits in Paris sein. Ich nehme mir ein Zimmer im Hôtel St. Jacques, wo Du mich am Freitag finden kannst.
Voller Liebe,
Dein TIBOR
Als Andras den Brief seines Bruders erhielt, war es Samstagmorgen. Er war die ganze Nacht im Architekturbüro gewesen und hatte Lemain geholfen, einen Satz Zeichnungen für einen Auftraggeber fertigzustellen. Der Brief wartete auf dem Tischchen im Eingang, zusammen mit einer handschriftlichen Mitteilung von Tibor: Andras, habe Dich heute Morgen besucht. Bis 9 Uhr gewartet. Kann nicht länger warten! Muss versuchen, sie zu sehen. Wir treffen uns bei Klara. T.
Er klopfte an die Tür der Concierge. Lange war nichts zu hören, dann ertönte ein unverständlicher Fluch auf Französisch, und man hörte Schritte näher kommen. Die
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