Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
die große Tür hinaus, winkte Mátyás hinter der Scheibe noch einmal zu, als er an den Frauen vorbeikam, die sich davor versammelt hatten und seinem Bruder bei der Arbeit zusahen. Andras konnte kaum glauben, dass es bald Oktober würde und er nicht zurück zur Schule fuhr; in letzter Zeit hatte er die Pesti Napló fast schon zwanghaft auf Nachrichten aus Paris durchstöbert. Die heutige Zeitung hatte von Gedränge an den Bahnhöfen berichtet, wo sechzehntausend Kinder aufs Land verschickt wurden. Wenn Andras mit Klara in Frankreich geblieben wäre, hätten sie die Stadt vielleicht auch verlassen, vielleicht hätten sie sich aber auch fürs Bleiben entschieden, auf alles gefasst, was da kommen mochte. Stattdessen war er nun hier in Budapest und ging die Andrássy út hinauf in Richtung Városliget, durch die baumüberschatteten Alleen aus Klaras Kindheit. Inzwischen erschien es ihm fast normal, einen Nachmittag im Haus auf der Benczúr utca zu verbringen, obgleich erst ein Monat seit seiner Ankunft in Budapest vergangen war. Damals war er so unsicher wegen Klaras Situation gewesen, dass sie sogar Angst gehabt hatten, das Haus zu verlassen; sie hatten sich unter Andras’ Namen ein Zimmer in einem winzigen, abgelegenen Hotel auf der Cukor utca genommen und beschlossen, es sei am besten, Klaras Mutter von der Anwesenheit ihrer verlorenen Tochter in Budapest zu unterrichten, ehe Klara persönlich im Haus auftauchte. Am nächsten Nachmittag war Andras zur Benczúr utca gegangen und hatte sich dem Hausmädchen als ein Freund von József vorgestellt. Das Dienstmädchen hatte ihn in denselben rosa und golden gepolsterten Salon geführt, in dem er eine unangenehme Stunde am Tag seiner Abreise nach Paris verbracht hatte. Die jüngere und die ältere Frau Hász spielten an einem vergoldeten Tisch vor dem Fenster Karten, József fläzte sich mit einem Buch auf dem Schoß in einem lachsfarbenen Sessel. Als er Andras in der Tür erblickte, schälte er sich aus dem Sitz, empfing ihn erwartungsgemäß freundlich und bedauerte, dass auch Andras nun gezwungen worden sei, nach Budapest zurückzukehren. Die jüngere Frau Hász nickte ihm höflich zu, die ältere schenkte ihm ein Lächeln des Willkommens und Erkennens. Doch etwas an Andras musste die Aufmerksamkeit von Klaras Mutter geweckt haben, da sie kurz darauf ihren Kartenfächer auf den Tisch legte und sich erhob.
»Herr Lévi«, sagte sie. »Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen etwas blass aus.« Sie durchquerte das Zimmer, um seine Hand zu nehmen, und machte einen stoischen Gesichtsausdruck, als wappne sie sich gegen schlechte Nachrichten.
»Mir geht es gut«, sagte er. »Und Klara auch.«
Sie betrachtete ihn mit aufrichtiger Verwunderung, dann erhob sich auch Józsefs Mutter. »Herr Lévi«, begann sie und verstummte, offenbar unsicher, wie sie ihn warnen könne, ohne vor ihrem Sohn zu viel zu verraten.
»Wer ist Klara?«, fragte József. »Du meinst doch nicht Klara Hász?«
»Doch«, sagte Andras. Und er erklärte, dass er vor zwei Jahren Klara einen Brief von ihrer Mutter gebracht hatte und ihr kurze Zeit später vorgestellt worden war. »Sie lebt jetzt unter dem Namen Morgenstern. Du kennst ihre Tochter, Elisabet.«
József ließ sich langsam auf den Damastsessel sinken. Er schaute drein, als hätte Andras ihm einen Faustschlag verpasst. »Elisabet?«, sagte er. »Willst du damit sagen, dass Elisabet Morgenstern die Tochter von Klara ist? Klara, meine verschollene Tante?« Und dann fielen ihm offenbar die Gerüchte ein, dass zwischen Andras und der Mutter von Elisabet Morgenstern etwas vorgefallen sein sollte, denn er wurde blass und starrte Andras an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.
»Warum sind Sie hier?«, fragte die jüngere Frau Hász. »Was wollen Sie uns mitteilen?«
Und so verkündete Andras schließlich die Nachricht, die zu überbringen er gekommen war: dass es Klara nicht nur gut gehe, sondern dass sie in Budapest sei und es nicht erwarten könne, ihre Mutter zu sehen. Kaum hatte er das ausgesprochen, füllten sich die Augen von Klaras Mutter mit Tränen; dann wurde ihre Miene von Angst verdunkelt. Warum, fragte sie, habe Klara so ein furchtbares Risiko auf sich genommen?
»Das ist leider teilweise meine Schuld«, sagte Andras. »Ich musste nach Budapest zurück. Und Klara und ich sind verlobt und wollen heiraten.«
Nach diesen Worten brach im Salon ein Inferno aus. Józsefs Mutter verlor vollkommen die Fassung; in panikdurchwobenem Sopran
Weitere Kostenlose Bücher