Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sie den Pont au Change überquerten, überlegte er kurz, noch einmal bei Klara vorbeizugehen, doch es war nicht genug Zeit; in einer Stunde fuhr der Zug ab. Er ging nur noch in eine Boulangerie, um sich Brot für die Reise zu kaufen. Im Fenster des Tabakhändlers nebenan verkündeten die Zeitungen, dass Graf Csaky, der ungarische Außenminister, auf einer geheimen diplomatischen Mission in Rom gewesen sei, geschickt von der deutschen Regierung; er war vom Flughafen direkt zu einem Treffen mit Mussolini gefahren. Die ungarische Regierung habe sich geweigert, den Zweck des Besuchs anzugeben, sondern nur verlauten lassen, dass Ungarn sich glücklich schätze, die Kommunikation zwischen seinen Verbündeten unterstützen zu können.
Der Bahnhof war überfüllt mit Augusturlaubern, der Bahnsteig ein Labyrinth aus Rucksäcken und Schrankkoffern, Kisten und Reisetaschen. Bald würde Tibor in einen Zug steigen und mit Ilana nach Italien fahren; in der Fahrkartenschlange packte Andras Tibor am Ärmel und sagte: »Ich wäre so gerne dabei, wenn du heiratest.«
Tibor lächelte und sagte: »Wünschte ich mir auch.«
»Ich hätte nie damit gerechnet, dass es so für dich ausgehen würde.«
»Ich hatte es auch nicht zu hoffen gewagt«, entgegnete Tibor.
»Glück gehabt«, sagte Andras.
»Hoffentlich liegt das in der Familie«, gab Tibor zurück. Sein Blick schweifte zum Anfang der Schlange, wo eine schmale dunkelhaarige Frau ihr Portemonnaie geöffnet hatte, um Geldscheine abzuzählen. Andras verspürte einen Stich: Sie trug das Haar genau wie Klara im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen. Ihr Sommermantel war geschnitten wie der von Klara, ihre Haltung aufrecht und elegant. Wie grausam vom Schicksal, dachte er, ihm in diesem Moment eine Vision von ihr zu bescheren.
Doch als sie sich umdrehte, um das Portemonnaie in ihrer Reisetasche zu verstauen, glaubte er, sein Herz würde aussetzen: Sie war es. Sie sah ihn mit ihren grauen Augen an und hob die Hand, um ihm ihre Fahrkarte zu zeigen: Sie würde mit ihm fahren. Nichts, was er sagte, würde sie davon abhalten.
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VIERTER TEIL
Die unsichtbare Brücke
26.
Waldkarpaten
IM JANUAR 1940 WAR die Arbeitsdienstkompanie 112/30 der ungarischen Armee in der Karpatenukraine stationiert, irgendwo zwischen den Orten Jalová und Stakčin, unweit des Flusses Cirocha. Es handelte sich um das Gebiet, das Ungarn von der Tschechoslowakei annektiert hatte nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Es war eine zerklüftete, wilde Landschaft aus bewaldeten Hängen und strauchüberzogenen Kuppen, verschneiten Tälern und felsenerstickten, zugefrorenen Flüssen. Als Andras in Paris von der Annektierung gelesen oder Wochenschaufilme über die bewaldeten Hügel Kárpátaljas gesehen hatte, war das Gebiet für ihn lediglich ein abstrakter Begriff gewesen, ein Bauer im Hitler’schen Schachspiel. Jetzt lebte er unter dem Laubdach der Waldkarpaten und arbeitete in einem Straßenbautrupp des ungarischen Arbeitsdienstes. Bei seiner Rückkehr nach Budapest war jede Hoffnung auf eine Erneuerung seines Visums schnell verflogen. Der Beamte von der Visumstelle, dessen Atem nach Zwiebeln und Paprika stank, hatte auf Andras’ Bitte mit einem Lachen reagiert und darauf hingewiesen, dass Andras sowohl Jude als auch im wehrpflichtigen Alter sei; seine Chancen, ein Visum für zwei Jahre bewilligt zu bekommen, seien vergleichbar mit denen, dass er , Márkus Kovács, den nächsten Urlaub mit Lily Pons auf Korfu verbringen würde, ha ha ha. Der Vorgesetzte des Mannes, ein sachlicherer, doch ebenso übel riechender Kerl – Zigarren, Wurst, Schweiß –, studierte den Brief der École Spéciale und erklärte mit einem patriotischen Seitenblick auf die ungarische Flagge, er spreche kein Französisch. Als Andras den Brief für ihn übertrug, verkündete der Vorgesetzte, wenn die Schule so begeistert von Andras sei, würde sie ihn wohl auch noch nehmen, wenn er seine zwei Jahre Wehrdienst abgeleistet habe. Andras hatte nicht lockergelassen, war jedoch Tag für Tag mit wachsender Enttäuschung und Not zum Amt gegangen. Der August näherte sich seinem Ende. Sie mussten zurück nach Paris. Klara war in einer gefährlichen Situation, die nur schlimmer werden konnte, je länger sie blieben. In der ersten Septemberwoche brach schließlich der Krieg aus.
Unter dem fadenscheinigsten Vorwand – als polnische Freischärler verkleidete SS -Männer hatten einen Überfall auf einen deutschen
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