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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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seinem Bruder mitgeteilt hatte – dass er in drei Wochen in der Karpatenukraine stationiert würde –, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass außer Klara niemand auf ihn wartete. Sie hatte darum gebeten, den Tee in ihrem Lieblingszimmer im ersten Stock serviert zu bekommen, ein hübsches Boudoir, dessen Fensterplatz einen Blick auf den Garten bot. Als Kind, hatte sie Andras erzählt, sei sie immer dorthin gegangen, wenn sie allein sein wollte. Wegen der wunderschönen Radierung von Dürer über dem Kamin nannte sie den Raum das »Hasenzimmer«: ein junger Feldhase im Halbprofil, die pelzweichen Hinterläufe angezogen, die Ohren angelegt. Klara hatte ein Feuer im Ofen entfacht und Gebäck zum Tee bestellt. Doch nachdem Andras ihr erzählt hatte, was er im Bataillonsbüro erfahren hatte, saßen die beiden nur noch schweigend da und starrten auf die Platte mit Walnuss- und Mohnstrudel.
    »Du musst zurück nach Hause, sobald die französische Grenze wieder offen ist«, sagte er schließlich. »Ich bekomme Angst, wenn ich mir vorstelle, in welcher Gefahr du dich hier befindest.«
    »Paris wäre nicht sicherer«, gab sie zurück. »Es kann jederzeit bombardiert werden.«
    »Du könntest mit Frau Apfel aufs Land gehen. Du könntest nach Nizza fahren.«
    Klara schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich hier nicht allein. Wir werden heiraten.«
    »Aber es ist reiner Wahnsinn zu bleiben«, sagte er. »Früher oder später wird man wissen, wer du bist.«
    »In Paris hält mich nichts mehr. Elisabet ist fort. Du bist hier. Meine Mutter und György auch. Ich kann nicht zurück, Andras.«
    »Was ist mit deinen Freunden, deinen Schülerinnen, dem Rest deines Lebens?«
    Erneut schüttelte Klara den Kopf. »Frankreich befindet sich im Krieg. Meine Schülerinnen sind aufs Land gegangen. Ich müsste die Schule sowieso schließen, zumindest eine Zeit lang. Vielleicht wird es nur ein kurzer Krieg. Mit ein bisschen Glück ist er schon wieder vorbei, ehe du deinen Wehrdienst abgeleistet hast. Dann besorgst du dir ein neues Visum, und wir kehren gemeinsam zurück.«
    »Und die ganze Zeit willst du hier bleiben, in Gefahr?«
    »Ich werde unbemerkt unter deinem Familiennamen leben. Keiner wird Grund haben, nach mir zu suchen. Ich werde die Wohnung und das Ballettstudio in Paris vermieten und mir hier einen kleinen Raum im jüdischen Viertel suchen. Vielleicht unterrichte ich ein paar Privatschüler.«
    Andras seufzte und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Das wird mein Ende sein«, sagte er. »Mir die ganze Zeit vorzustellen, dass du als Gesetzlose in Budapest lebst.«
    »Ich habe schon in Paris als Gesetzlose gelebt.«
    »Aber da war das Gesetz viel weiter weg!«
    »Ich lasse dich nicht allein hier in Ungarn«, sagte sie. »Schluss jetzt.«
    Nie hätte er gewagt, sich auszumalen, dass Klara und er in der Synagoge auf der Dohány utca heiraten würden, noch dass seine Eltern und Mátyás es miterlebten; ganz bestimmt hätte er nie zu träumen gewagt, dass Klaras Familie ebenfalls zugegen wäre – ihre Mutter, die ihre Witwentracht gegen einen Kegel roséfarbener Seide getauscht hatte und vor Freude weinte, die jüngere Frau Hász schmallippig und aufrecht in einem schlaff hängenden Kleid von Vionnet, Klaras Bruder György, dessen Liebe zu Klara seine eventuellen Vorbehalte gegen Andras niedergerungen hatte und der so stolz und aufgeregt einherschritt, als wäre er der Vater der Braut, und schließlich József Hász, der den Ablauf mit schweigender Distanziertheit beobachtete. Der Gebetsschal von Glücks-Béla war der Hochzeitsbaldachin und Klaras Ehering der schlichte Goldschmuck, der einmal Bélas Mutter gehört hatte. Sie heirateten an einem Oktobertag im Hof der Synagoge. Eine aufwendige Feier im Heiligtum selbst kam nicht infrage. Von dieser Verbindung durfte nichts an die Öffentlichkeit dringen, höchstens die Papiere, mit denen sich der Name der Braut noch weiter von der Klara Hász entfernte, die sie einst gewesen war. Aufgrund eines neuen antijüdischen Gesetzes, das im Mai verabschiedet worden war, konnte Klara keine ungarische Staatsbürgerin werden, doch sie durfte Andras’ Nachnamen annehmen und damit eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Andras’ Vater selbst las den Ehevertrag vor, seine Ausbildung in Aramäisch an der Rabbinerschule hatte ihn auf diese Aufgabe vorbereitet. Und Andras’ Mutter reichte ihrem Sohn vor den wenigen versammelten Gästen schüchtern das Glas, das er mit dem Fuß zertreten

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