Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
forderte sie zu erfahren, wie so etwas habe geschehen können, dann verkündete sie, dass sie es gar nicht wissen wolle, es sei undenkbar und absurd. Sie rief das Hausmädchen und bat um ihre Herzarznei, dann sagte sie zu József, er solle unverzüglich seinen Vater aus der Bank holen. Kurz darauf machte sie den Auftrag rückgängig, weil Györgys hastiger Aufbruch mitten am Tag unnötigen Verdacht erregen könne. Derweil flehte die ältere Frau Hász Andras an, ihr zu sagen, wo sie Klara finden könne, ob sie in Sicherheit sei, wie sie besucht werden könne. Andras im Mittelpunkt dieses Durcheinanders begann sich zu fragen, ob er, wenn er es überstanden hätte, immer noch mit Klara verlobt wäre oder ob ihr Bruder und seine Frau eine esoterische Macht ausüben konnten, die jegliche Verbindung zwischen einem Angehörigen von Klaras Klasse und der seinen zunichtemachte. Bereits jetzt betrachtete József Hász Andras mit einem distanzierten, vielleicht sogar feindseligen Ausdruck – voller Verwirrung, Verrat und, am verstörendsten für Andras, voller Misstrauen.
Schnell wurde klar, dass die ältere Frau Hász nicht davon abzuhalten war, Klara auf der Stelle zu besuchen; sie hatte bereits einen Wagen bestellt. Andras sollte sie begleiten. Der Chauffeur sollte sie den halben Weg zum kleinen Hotel auf der Cukor utca fahren, die restliche Strecke würden sie zu Fuß gehen. József brachte seine Mutter ohne ein Wort des Abschieds nach oben, um sie zu beruhigen. Klaras Mutter warf Andras einen Blick zu, der ihm sagte, wie lächerlich sie das Verhalten ihrer Schwiegertochter fand. Sie zog einen Mantel über das Kleid, und gemeinsam liefen sie nach draußen zum wartenden Auto. Während sie durch die Straßen fuhren, flehte sie ihn an zu erzählen, ob es Klara gut ginge, wie sie jetzt aussehe, und schließlich, ob sie ihre Mutter überhaupt sehen wolle.
»Mehr als alles andere«, sagte Andras. »Das müssen Sie doch wissen.«
»Achtzehn Jahre!«, stieß sie halb flüsternd aus und schwieg dann überwältigt.
Kurz darauf ließ der Chauffeur sie am Anfang der Andrássy út heraus, und Andras legte eine Hand unter Frau Hász’ Ellenbogen, als sie durch die Straßen eilten. Beim Gehen löste sich ihr Haar aus dem Knoten, und das eilig zusammengebundene Tuch rutschte ihr vom Hals; Andras fing das Viereck aus violetter Seide mit den Fingerspitzen auf, als sie den kleinen Empfangsbereich des Hotels betraten. Am Fuße der schmiedeeisernen Treppe wurde Klaras Mutter von einer wortlosen Beklommenheit ergriffen. Langsam und bedächtig stieg sie die Stufen empor, als bräuchte sie Zeit, um im Kopf einige ihrer tausend Vorstellungen dieses Augenblicks durchzugehen. Als Andras sie darauf hinwies, dass sie das richtige Stockwerk erreicht hatten, folgte sie ihm ohne ein Wort durch den Gang und sah ernst zu, wie er den Schlüssel aus der Tasche holte. Er entriegelte die Tür und drückte sie auf. Dort stand Klara am Fenster in ihrem rehbraunen Kleid, ein Taschentuch in der Hand zerknüllt, das Morgenlicht im Gesicht. Ihre Mutter näherte sich ihr wie eine Schlafwandlerin; sie ging zum Fenster, nahm Klaras Hand, berührte ihr Gesicht, sprach ihren Namen aus. Zitternd legte Klara den Kopf an die Schulter ihrer Mutter und weinte. Und so standen sie in erschauderndem Schweigen da, und Andras sah ihnen zu. Dies war das Gegenstück zu dem, was er einige Wochen zuvor bei Elisabets Einschiffung erlebt hatte: Ein verlorenes Kind kehrte zurück, das Nichtgreifbare wurde Wirklichkeit. Er wusste, dass das Wiedersehen im heruntergekommenen obersten Stockwerk eines engen Hotelzimmers auf einer unansehnlichen Straße in Budapest stattfand, doch hatte er das Gefühl, eine Art überirdische Zusammenfügung zu erleben, eine so unglaubliche Vereinigung, dass er sich abwenden musste. Hier und jetzt wurde die Lücke zwischen Klaras vergangenem Leben und ihrer Gegenwart geschlossen; es schien nicht mehr undenkbar, dass sie und er zusammen ein neues Leben beginnen würden. Zu dem Zeitpunkt hatte es noch keine Schwierigkeiten auf der Budapester Visumstelle gegeben. Die französische Grenze war noch offen. Alles schien möglich.
Jetzt, vier Wochen später, wusste er zumindest eines sicher, nämlich dass er nicht nach Paris zurückkehren würde, wie sie gehofft hatten. Schlimmer noch: Bald würde er weit fort von Klara geschickt werden, in einen fernen, unbekannten Wald. Als er am Nachmittag auf der Benczúr utca mit der Nachricht eintraf, die er kurz zuvor
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