Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
Radiosender in der Grenzstadt Gleiwitz vorgetäuscht – schickte Hitler anderthalb Millionen Soldaten und zweitausend Panzer über die polnische Grenze. Die Budapester Tageszeitung brachte Fotografien von polnischen Reitern, die mit Säbel und Lanze gegen die deutschen Panzerdivisionen anritten. Die Ausgabe vom Tag darauf zeigte ein Schlachtfeld voll verstümmelter Pferde und Resten altmodischer Rüstung; grinsende Panzerfahrer drückten die Beinschienen und Brustharnische an sich. Als Deutschland und Russland einige Wochen später über die Aufteilung des eroberten Gebiets verhandelten, erhielt Andras die Einberufung zum Arbeitsdienst. Es sollte noch achtzehn Monate dauern, bis Ungarn in den Krieg eingriff, doch die Aushebung jüdischer Männer hatte bereits im Juli begonnen. Andras meldete sich im Bataillonsbüro auf der Soroksári út, wo er erfuhr, dass seine Kompanie, die 112/30, in Kárpátalja, der annektierten Karpatenukraine, eingesetzt würde. In drei Wochen würde er aufbrechen.
    Mit dieser Nachricht ging er zu Mátyás im Damenwäschegeschäft auf der Váci utca, wo sein Bruder gerade ein neues Schaufenster gestaltete. Eine Gruppe fein gekleideter Damen mittleren Alters schaute vom Bürgersteig aus zu, wie Mátyás verschiedene Schneiderpuppen mit immer dürftigerer Wäsche bekleidete, eine keusche, in der Zeit gefangene Burleske. Als Andras an die Scheibe klopfte, hob Mátyás einen Finger, um seinem Bruder zu signalisieren, er solle kurz warten; er steckte die Rückseite eines lilafarbenen Unterrocks fest und verschwand dann durch eine zwergengroße Tür im Schaufenster. Kurz darauf erschien er in der menschengroßen Tür des Geschäfts, ein Maßband um den Hals, die Aufschläge mit Nadeln gespickt. In den vergangenen zwei Jahren war er von einem hageren Jungen zu einem sehnigen, kompakten Jüngling geworden; mit der unbefangenen Anmut eines Tänzers bewegte er sich durch das prosaische Ballett seines Tagwerks. Auf seinen Wangen lag ein immerwährender Bartschatten, an seinem Hals wölbte sich der kantige kleine Vorsprung eines Adamsapfels. Er hatte das schwere dunkle Haar und die hohen spitzen Wangenknochen ihrer Mutter.
    »Ich muss noch zwei Drahtpuppen anziehen«, sagte er. »Schau doch einfach dabei zu! Du kannst mir alle Neuigkeiten berichten, während ich dekoriere.«
    Sie gingen in das Geschäft und betraten das Schaufenster durch die zwergengroße Tür. »Was meinst du?«, fragte Mátyás und zeigte auf eine Schneiderpuppe mit schlanker Taille. »Das rosafarbene Hängerchen oder das blaue?« Er hatte sich angewöhnt, die Fenster während der Geschäftszeiten zu gestalten, weil er festgestellt hatte, dass so ein beständiger Strom von Kunden angezogen wurde, die immer genau das kaufen wollten, was er im Schaufenster ausstellte.
    »Das blaue«, sagte Andras, und dann: »Rate mal, wo ich in drei Wochen bin.«
    »Nicht in Paris, würde ich sagen.«
    »In Kárpátalja, mit meiner Arbeitskompanie.«
    Mátyás schüttelte den Kopf. »Wenn ich du wäre, würde ich abhauen. In den nächsten Zug springen und in Frankreich politisches Asyl beantragen. Sag doch, du würdest keinem Land dienen wollen, das sich von den Nazis Gebiete schenken lässt.« Er versenkte eine Nadel im Träger des blauen Hängerchens.
    »Ich kann nicht flüchten. Ich bin verlobt und will heiraten. Außerdem ist die französische Grenze jetzt eh geschlossen.«
    »Dann geh irgendwo anders hin. Nach Belgien. In die Schweiz. Du hast selbst gesagt, dass Klara hier nicht sicher ist. Nimm sie mit!«
    »Wir beide wie die Vagabunden auf Schienen quer durch Europa?«
    »Warum nicht? Das ist immer noch viel besser, als in die Karpaten verfrachtet zu werden.« Mátyás richtete sich von seiner Arbeit auf und betrachtete Andras lange, und seine Miene wurde düsterer. »Du musst wirklich gehen, oder?«
    »Ich sehe keinen Weg daran vorbei. Der erste Einsatz dauert nur sechs Monate.«
    »Und dann bekommst du einen knauserigen Heimaturlaub und wirst noch mal für sechs Monate weggeschickt. Und dann das Ganze noch zweimal von vorn.« Mátyás verschränkte die Arme. »Ich finde, du solltest wirklich abhauen.«
    »Das würde ich gerne, glaub mir.«
    »Klara wird das alles nicht gerne hören.«
    »Ich weiß. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Sie wartet bei ihrer Mutter auf mich.«
    Mátyás gab ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und hielt die kleine Tür auf, sodass Andras hindurchschlüpfen konnte. Er trat in das Geschäft und ging durch

Weitere Kostenlose Bücher