Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
alles geschehen kann!«
»Wenn Europa in den Krieg zieht, bist du hier deutlich sicherer.«
»Meine Sicherheit!«, sagte sie. »Was bedeutet mir die schon!«
»Denk daran, was sie mir bedeutet«, sagte Andras. Er küsste Klaras blasse Stirn, ihre Wangen, ihre Lippen. »Ich kann nicht zulassen, dass du mitkommst«, sagte er. »Wir brauchen gar nicht darüber zu sprechen. Es geht nicht. Und ich muss jetzt gleich nach Hause gehen und meine Sachen packen. Mein Zug fährt morgen früh um halb acht. Du musst jetzt überlegen: Setz dich hin und denk nach, was du nach Budapest schicken möchtest. Ich kann Briefe für dich mitnehmen.«
»Das ist nur ein kleiner Trost!«
»Stell dir vor, was für ein Trost so ein Brief für deine Mutter sein wird.« Mit zitternden Händen fuhr Andras ihr übers Haar, über die Schultern. »Und ich kann mit ihr reden, Klara. Ich kann sie fragen, ob sie mir erlaubt, dich zur Frau zu nehmen.«
Klara nickte und griff nach seiner Hand, doch sie schaute ihn nicht an; es war, als hätte sie sich an einen kleinen, unzugänglichen Schutzort zurückgezogen. Sie gingen hinunter ins Wohnzimmer, damit Klara schreiben konnte. Andras stellte sich ans offene Fenster und beobachtete, wie die jungen Kastanien die blassen Unterseiten ihrer Blätter zeigten; die Luft roch nach Gewitter. Andras wusste, dass er im Sinne der Sicherheit handelte, so wie es ein Ehemann tun sollte. Er wusste, dass er das Richtige tat. In ein paar Augenblicken hätte Klara ihre Briefe verfasst, dann würde er ihr einen Abschiedskuss geben.
Wie hätte er wissen können, dass es seine letzte Nacht in Paris sein würde? Was hätte er getan, wie hätte er diese Stunden verbracht, wenn er es gewusst hätte? Wäre er die ganze Nacht durch die Straßen gelaufen, um sich deren unvorhersagbare Winkel, Gerüche und unterschiedliche Lichtverhältnisse einzuprägen? Wäre er zu Rosens Wohnung gegangen und hätte ihn aus dem Schlaf geschüttelt, ihm viel Glück mit Shalhevet und seinen politischen Kämpfen gewünscht? Hätte er ein letztes Mal Ben Yakov in seinem trostlosen Apartment aufgesucht? Wäre er zu Polaner gegangen, hätte sich an die Seite seines Freundes gehockt und ihm gesagt, was die Wahrheit war: dass er ihn so liebte wie noch keinen Freund zuvor, dass er ihm sein Leben und sein Glück verdankte, dass er nie dasselbe Hochgefühl verspürt hatte, als wenn sie gemeinsam nachts im Atelier arbeiteten, wenn sie etwas schufen, das sie für gewagt und richtig hielten? Wäre er ein letztes Mal am Sarah-Bernhardt vorbeigebummelt, dieser schlafenden grande dame mit ihren verstaubten roten Samtsitzen, den stillen, leeren Gängen und den Garderoben, in denen es noch nach Theaterschminke roch? Wäre er in Forestiers Werkstatt geschlichen, um sich ihr Inventar von Täuschung und Illusion einzuprägen? Wäre er noch einmal durch die Geheimtür hinter dem Cimetière du Montparnasse gehuscht, zurück in sein Atelier in der Schule, um mit den Händen über die vertraute glatte Oberfläche seines Zeichentischs, die Kerbe für die Stifte oder über die Druckbleistifte mit ihrer angerauten Grifffläche zu fahren, mit ihrer glatten, harten Bleimine und dem befriedigenden Klicken, das das Ende einer Arbeitsphase und den Beginn der nächsten signalisierte? Wäre er zurück in die Rue de Sévigné gegangen, die erste und letzte Heimat seines Herzens in Paris, an den Ort, wo er zum ersten Mal Klara Morgenstern mit einer blauen Vase in den Händen gesehen hatte? Der Ort, wo sie sich zum ersten Mal geliebt, gestritten und von ihren Kindern gesprochen hatten?
Aber er wusste es ja nicht. Er wusste nur, dass es richtig war, Klara davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Er würde fahren, und dann würde er zu ihr zurückkehren. Kein Krieg konnte ihn von ihr fernhalten, kein Gesetz, keine Vorschrift. Er rollte sich in die Decken, die sie geteilt hatten, und dachte die ganze Nacht lang an sie. Neben ihm, auf dem Boden, schlief Tibor auf einer geliehenen Matratze; der vertraute Rhythmus seines Atems war unbeschreiblich tröstlich. Fast hätten sie daheim sein können in ihrem kleinen Haus in Konyár, beide am Wochenende zurück vom Gimnázium, die Eltern schliefen auf der anderen Seite der Wand, und Mátyás träumte in seinem kleinen Bettchen.
Andras hatte nur einen Pappkoffer und seinen Lederranzen. Es war nicht genug Gepäck, um ein Taxi zu rufen. Und so ging er mit Tibor zu Fuß zum Bahnhof, genau wie zwei Jahre zuvor, als Andras Budapest verlassen hatte. Als
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