Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Verbündeten zu Hilfe zu eilen. Das erschien Andras reichlich abwegig, doch der Freudentag verlangte eine optimistische Einstellung. Es war Mitte Oktober, einer der letzten warmen Tage des Jahres. Schräge Lichtstrahlen fielen in die Platanen, und ein goldener Dunst sammelte sich im Garten wie auslaufender Honig. Als die Sonne sich der Gartenmauer näherte, nahm Klara Andras bei der Hand und führte ihn nach draußen. Sie brachte ihn in einen Winkel des Gartens hinter einer Ligusterhecke, wo eine Marmorbank vor einer Efeumauer stand. Andras setzte sich und nahm Klara auf den Schoß. Die Haut an ihrem Hals war warm und feucht, der Geruch von Rosen vermischte sich mit der schwach mineralischen Note ihres Schweißes; sie neigte ihm ihr Gesicht zu, und als er sie küsste, schmeckte sie nach Hochzeitstorte.
Das war der Augenblick, der ihn in jenen Nächten an den Ausläufern der Karpaten immer wieder heimsuchte. Jener Moment und anschließend der Abend in ihrer Suite im Hotel Gellért. Ihre Hochzeitsreise war kurz gewesen: drei Tage, mehr nicht. Jetzt zehrte er davon wie von Brot: der Moment, da sie sich als Ehepaar im Hotel eingetragen hatten, der erleichterte Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, als sie endlich allein im Zimmer waren, ihre überraschende Schüchternheit im Hochzeitsbett, die Rundung ihres nackten Rückens in den zerwühlten Laken, als sie am Morgen erwachten, der Ehering mit seiner überraschenden Schwere an Andras’ Hand. Es erschien ihm ein unpassender Luxus, den Ring nun beim Arbeiten zu tragen, nicht nur weil der Gegensatz zwischen dem Gold und dem Schlamm und all dem Grau um ihn herum so krass war, sondern auch weil er ihre gemeinsame Privatsphäre symbolisierte. Ani l’dodi ve dodi li , hatte Klara auf Hebräisch gesagt, als sie ihm den Ring gegeben hatte, eine Zeile aus dem Hohelied Salomons: Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte . Er gehörte ihr, und sie gehörte ihm, selbst hier in den karpatischen Wäldern.
Andras und seine Arbeitskollegen waren auf einem verlassenen Bauernhof in einem verlassenen Weiler unweit eines Steinbruchs untergebracht, der längst alles Granit hergegeben hatte, das herauszuschlagen sich gelohnt hatte. Andras wusste nicht, wie lange der Hof schon von seinen Bewohnern verlassen war; in der Scheune schwebte nur noch ein schwacher Geistergeruch von Tieren. Fünfzig Mann schliefen hier, zwanzig in einem umgebauten Hühnerstall, dreißig in den Ställen und weitere fünfzig in einer neu errichteten Baracke. Die Zugführer und der Kommandeur, der Arzt und die Vorarbeiter übernachteten im Bauernhaus, wo es richtige Betten und Wasserversorgung gab. In der Scheune lagen die Männer auf nackten, mit Heu gestopften Matratzen in Feldbetten. Am Fuße jedes Bettes befand sich eine Holzkiste mit der Ausweisnummer ihres Besitzers. Das Essen war dürftig, aber zumindest bekamen sie regelmäßig etwas: dünnen Kaffee und Brot am Morgen, mittags Kartoffelsuppe oder Bohnen, am Abend erneut Suppe und wieder Brot. Es war genug Kleidung da, um sich warm zu halten: Mäntel und Winteruniformen, wollene Unterwäsche, Wollsocken, robuste schwarze Stiefel. Die Mäntel, Hemden und Hosen waren fast identisch mit den Uniformen, die der Rest der ungarischen Armee trug; der einzige Unterschied war das grüne, in die Aufschläge genähte M für Munkaszolgálat, den Arbeitsdienst. Doch niemand sprach Munkaszolgálat je in Gänze aus, sie nannten es Musz , eine einzige gereizte Silbe. Beim Musz, erklärten Andras seine Kumpanen, sei man genauso wenig wert wie überall beim Militär; der Unterschied sei, dass das Leben beim Musz noch weniger wert sei als Scheiße. Beim Musz, sagten sie, bekäme man denselben Sold wie die anderen eingezogenen Männer: gerade genug, dass die Familie davon hungern konnte. Der Musz sei nicht darauf aus, einen umzubringen, er quetschte einen nur so lange aus, bis man sich selbst umbringen wollte. Und es gebe natürlich noch einen anderen Unterschied: Die Kompanien des Arbeitsdienstes bestanden nur aus Juden. Der ungarische Verteidigungsminister hielt es für gefährlich, Juden mit Waffen auszurüsten. Das Militär stufte sie als unzuverlässig ein und schickte sie deshalb zum Bäumefällen, zum Straßen- und Brückenbau oder um Baracken für die Soldaten zu errichten, die in Kárpátalja stationiert würden.
Es gab Privilegien, mit denen Andras nicht gerechnet hatte. Da er verheiratet war, bekam er zusätzlichen Sold und einen Wohngeldzuschuss. Er
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