Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
der Scheune gelaufen. »Was ist los?«, rief er. Und als er vor ihnen stand: »Was habt ihr hier zu suchen?«
Andras blinzelte. Die Sonne war gerade hinter einer Wolke hervorgekommen; es war schwer, das Gesicht des Mannes zu erkennen. »Ich bin Gruppenführer Lévi«, sagte er. »Dies ist das Haus meiner Eltern.«
»Das war ihr Haus«, verbesserte ihn der Mann mit einer Spur von Stolz. Er sah Andras mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie sehen nicht wie ein Offizier aus.«
»Gruppenführer Lévi von der Kompanie 112/30«, sagte Andras, doch der Mann beachtete ihn schon nicht mehr. Er spähte zu Mendel hinüber, an dessen Mantel keine Offiziersabzeichen prangten. Dann ließ er den Blick zu Klara schweifen und musterte sie langsam und anerkennend.
»Und Sie sehen nicht wie ein Mädchen vom Land aus«, sagte er.
Andras spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Wo sind meine Eltern?«, fragte er.
»Woher soll ich das wissen?«, gab der Mann zurück. »Leute wie ihr sind mal hier und mal dort.«
»Hör auf damit, Jenő«, sagte die Frau, und dann, an Andras gewandt: »Sie sind in Debrecen. Sie haben den Hof vor einem Monat an uns verkauft. Haben sie Ihnen nicht geschrieben?«
Ein Monat. So lange würde ein Brief brauchen, bis er Andras an der Grenze erreichte. Da lag er jetzt wahrscheinlich, schimmelte im Postraum vor sich hin, wenn er nicht längst zum Heizen verwendet worden war. Andras versuchte, an der Frau vorbei in die Küche zu schauen; der alte Küchentisch, auf dem er jede Kerbe und jedes Astloch kannte, war noch da. Das Kind drehte sich nach dem um, was Andras’ Aufmerksamkeit beanspruchte, dann kaute es wieder am Zwieback.
»Haben Sie keine Verwandten in Debrecen?«, sagte die Frau. »Kann Ihnen niemand sagen, wo Ihre Eltern wohnen?«
»Ich war seit Jahren nicht mehr da«, sagte Andras. »Ich weiß es nicht.«
»Also, ich muss zurück an die Arbeit«, sagte der Mann. »Ich denke, Sie haben jetzt lange genug mit meiner Frau geredet.«
»Und ich denke, Sie haben meine lange genug angeglotzt«, gab Andras zurück.
In dem Moment beugte sich der Mann vor und kniff Klara in die Taille. Sie erschrak. Ohne nachzudenken, schlug Andras dem Mann mit der Faust in den Magen. Der stieß die Luft aus und stolperte rückwärts. Mit dem Absatz trat er gegen einen Stein und stürzte rücklings in den zähen Schlamm. Als er sich wieder aufrappeln wollte, rutschte er erneut aus und fiel auf die Hände. Doch da waren Andras, Klara und Mendel schon auf dem Weg zum Bahnhof, die Taschen über den Schultern. Bis zu dem Augenblick hatte Andras es nie zu schätzen gewusst, so nah am Bahnhof zu wohnen; nun tat er etwas, das er ungezählte Male bei Mátyás gesehen hatte: Er hechtete zu einem offenen Güterwagen und warf seine Tasche hinein, dann half er Klara hinauf. Schließlich sprang er mit Mendel hoch, als der Zug ächzend den Bahnhof in Richtung Debrecen verließ. Sie konnten gerade noch sehen, wie der neue Besitzer des Sägewerks mit der Schrotflinte in der Hand aus dem Haus gerast kam und seiner Frau zurief, sie solle die verfluchten Patronen suchen.
In der Kühle des Apriltages fuhren sie im offenen Güterwagen nach Debrecen und kamen langsam wieder zu Atem. Andras war überzeugt, Klara sei entsetzt über ihn, doch sie lachte. Ihre Schuhe und ihr Kleidersaum waren schwarz vor Schlamm.
»Diesen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen«, sagte sie. »Ich habe es wirklich nicht kommen sehen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Andras.
»Er hätte noch mehr verdient«, sagte Mendel. »Ich hätte ihm gerne eine ordentliche Abreibung verpasst.«
»Ich würde dir nicht raten, zurückzugehen und es noch einmal zu versuchen«, meinte Klara.
Andras lehnte sich gegen die Wand des Güterwagens und legte einen Arm um sie, und Mendel holte eine Zigarette aus der Manteltasche und legte sich auf die Seite, rauchte und lachte in sich hinein. Der Fahrtwind war so frisch und kribbelnd, die Mittagssonne so hell, dass Andras so etwas wie ein Triumphgefühl verspürte. Erst als er Klara erneut ansah – ihr Blick nun so ernst, als liege in ihm ein intimes Verständnis dessen, was gerade auf jenem schlammigen Hof geschehen war –, wurde ihm klar, dass er das Haus seiner Kindheit niemals wiedersehen würde.
Sie brauchten nicht lange, um die Wohnung seiner Eltern in Debrecen zu finden. Sie gingen in eine koschere Bäckerei in der Nähe der Synagoge, und Andras erfuhr vom Bäcker, dass seine Mutter gerade da gewesen war und Matze
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