Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
einer Sache, die vielleicht gar nicht passiert ist. Ich möchte einfach kein Aufsehen erregen. Ich will studieren und meinen Abschluss machen. Versteht ihr das?«
Andras verstand das gut. Er erinnerte sich an jenes Gefühl in der Grundschule in Konyár, an diesen Wunsch, unsichtbar zu sein. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass er oder einer seiner jüdischen Kommilitonen es auch in Paris empfinden würde. »Ich verstehe dich«, sagte er. »Trotzdem sollte Lemarque sich nicht einbilden dürfen, dass er« – er suchte nach dem richtigen französischen Wort –, »davonkommt, wenn er so etwas sagt. Das heißt, wenn er es wirklich gesagt hat.«
»Lévi versteht, was ich meine«, sagte Rosen. Doch dann stützte er das Kinn in die Hand und blickte in die Suppenschale. »Andererseits weiß ich wirklich nicht genau, was wir deswegen tun sollen. Wenn wir es irgendwo erzählen, stünde unser Wort gegen das von Lemarque. Und er hat viele Freunde unter den Studenten aus dem vierten und fünften Jahr.«
Polaner schob seinen Teller beiseite. »Ich muss zurück ins Atelier«, sagte er. »Ich habe noch einen ganzen Abend Arbeit vor mir.«
»Ach, komm, Eli«, sagte Rosen. »Sei nicht sauer!«
»Ich bin nicht sauer. Ich will nur einfach keinen Ärger, das ist alles.« Polaner setzte seinen Hut auf und schlang sich den Schal um den Hals. Sie sahen ihm nach, wie er sich durch das Labyrinth von Tischen arbeitete, die Schultern unter dem abgetragenen Samt seiner Jacke hochgezogen.
»Du glaubst mir doch, oder?«, sagte Rosen zu Andras. »Ich weiß, was ich gehört habe.«
»Ich glaube dir«, sagte Andras. »Aber ich bin auch der Meinung, dass wir nichts daran ändern können.«
»Haben wir nicht gerade noch über deinen Bruder geredet?«, fragte Ben Yakov. »Das Thema hat mir irgendwie besser gefallen.«
»Schon gut«, sagte Rosen. »Ich habe mit dem Thema angefangen, und ihr seht ja, was passiert ist.«
Andras zuckte mit den Schultern. »Vago sagt, es wäre eh noch zu früh zum Feiern. Vielleicht kommt es gar nicht so weit.«
»Vielleicht aber doch«, sagte Rosen.
»Ja. Und dann wird Tibor, wie du sagst, in einer faschistischen Diktatur leben. Daher weiß man gar nicht so genau, was man hoffen soll. Jede Möglichkeit ist kompliziert.«
»Palästina«, sagte Rosen. »Ein jüdischer Staat. Darauf sollten wir hoffen. Aber dein Bruder soll ruhig unter Mussolini in Italien studieren. Soll er seinen Doktor unter der Nase des Duce machen. In der Zwischenzeit machen du, Polaner, Ben Yakov und ich unseren Abschluss in Paris. Und dann wandern wir alle aus. Einverstanden?«
»Ich bin kein Zionist«, sagte Andras. »Meine Heimat ist Ungarn.«
»Aber im Moment nicht, oder?«, sagte Rosen. Und darauf hatte Andras nichts zu erwidern.
In den folgenden zwei Wochen wartete er auf Nachricht aus Modena. Im Statikkurs berechnete er die Gewichtsverteilung entlang der geschwungenen Unterseite des Pont au Double und hoffte, durch die Symmetrie der Gleichungen ein wenig von seinen Gedanken abgelenkt zu werden. Im Zeichenunterricht erstellte er eine maßstabsgetreue Wiedergabe der Fassade des Gare d’Orsay, verlor sich dankbar in den Abmessungen der raffinierten Ziffernblätter und der Linienführung der Torbögen. Im Atelier behielt er Lemarque im Auge, der öfter unergründliche Blicke zu Polaner hinüberwarf, aber nichts von sich gab, das man als Verunglimpfung hätte auffassen können. Jeden Morgen in Vagos Büro schielte er zu den Briefen auf dessen Schreibtisch hinüber, hielt Ausschau nach einer italienischen Briefmarke; aber der Brief blieb aus.
Eines Nachmittags, als Andras im Atelier saß und hauchdünne Bleistiftstriche aus seiner Zeichnung des d’Orsay radierte, kam die schöne Lucia aus dem Sekretariat mit einer gefalteten Nachricht in den Unterrichtsraum. Sie reichte die Notiz dem Studenten aus dem fünften Jahr, der die Aufsicht führte, und ging ohne einen Blick auf die Klasse wieder hinaus.
»Lévi«, sagte der Student, ein Mann mit strengem Blick und einer Frisur wie explodierte blonde Spreu. »Sie sollen ins Büro von Le Colonel kommen.«
Alle Gespräche im Raum verstummten. Stifte verharrten schwebend in Studentenhänden. Le Colonel war der Spitzname von Auguste Perret. Alle Augen richteten sich auf Andras; Lemarque warf ihm ein schwaches Lächeln zu. Andras packte seine Stifte in die Tasche und fragte sich, was Perret wohl von ihm wolle. Ihm kam der Gedanke, dass Perret etwas mit der Sache in Italien zu tun
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