Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
aus ihrem Leben erzählen und ihre Briefe ins Französische übersetzen. Besonderes Interesse zeigte er an Tibors Vorhaben, in Italien Medizin zu studieren. Vago kannte einen jungen Mann in Rom, dessen Vater Medizinprofessor an der Universität von Modena war; er wollte ein paar Briefe schreiben, sagte er, und sehen, was man tun könne.
Andras dachte sich nicht viel dabei, als Vago das sagte; er wusste, dass der Professor viel beschäftigt und die internationale Post sehr langsam war, außerdem teilte der Herr in Rom möglicherwiese nicht Vagos Meinung über die Ausbildungssituation junger ungarisch-jüdischer Männer. Doch eines Morgens hielt Vago einen Brief für Andras in der Hand: Er hatte die Nachricht erhalten, dass Professor Turano im Januar eventuell die Immatrikulation von Tibor in die Wege leiten könne.
»Du lieber Gott!«, sagte Andras. »Das ist ein Wunder! Wie haben Sie denn das geschafft?«
»Ich habe den Wert meiner Beziehungen korrekt eingeschätzt«, sagte Vago lächelnd.
»Ich muss Tibor sofort telegrafieren. Wo muss ich hingehen, um ein Telegramm aufzugeben?«
Mahnend hob Vago die Hand. »Ich würde noch nicht schreiben«, sagte er. »Bis jetzt ist es nur eine Möglichkeit. Wir wollen ihm doch nicht vergeblich Hoffnung machen.«
»Wie stehen denn die Chancen, was meinen Sie? Was meint der Professor?«
»Er sagt, dass er einen Antrag bei der Zulassungskommission stellen muss. Es ist ein Sonderfall.«
»Aber Sie sagen mir sofort Bescheid, wenn Sie von ihm hören?«
»Natürlich«, erwiderte Vago.
Doch Andras musste diese vorläufige gute Nachricht mit jemandem teilen, deshalb erzählte er Polaner, Rosen und Ben Yakov am Abend in ihrer Studentenkantine auf der Rue des Écoles davon. Es war ebenjenes Lokal, das József Andras bei seiner Ankunft empfohlen hatte. Für 125 Francs pro Woche bekam man ein tägliches Essen, das hauptsächlich aus Kartoffeln, Bohnen und Kohl bestand; sie aßen in einem hallenden Kellergewölbe an langen Tischen, in die Tausende von Studentennamen geritzt waren. Andras überbrachte die Neuigkeit in seinem ungarisch gefärbten Französisch und hatte Mühe, bei der Geräuschkulisse verstanden zu werden. Die anderen hoben ihre Gläser und wünschten Tibor alles Gute.
»Was für eine herrliche Ironie«, sagte Rosen, als sie getrunken hatten. »Weil er Jude ist, muss er eine konstitutionelle Monarchie verlassen, um Medizin in einer faschistischen Diktatur studieren zu können. Zumindest muss er sich nicht zu uns in dieser schönen Demokratie gesellen, wo intelligente junge Männer das Recht der freien Meinungsäußerung mit solcher Hingabe ausüben.« Er warf Polaner einen schneidenden Blick zu, der auf seine sauberen weißen Hände hinabschaute.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Ben Yakov.
»Nichts«, sagte Polaner.
»Was ist passiert?«, wollte Ben Yakov wissen, der es nicht leiden konnte, wenn er nicht in den jüngsten Tratsch eingeweiht war.
»Ich werde euch sagen, was passiert ist«, erwiderte Rosen. »Gestern ging auf dem Weg zum Unterricht der Griff von Polaners Mappe kaputt. Wir reparierten ihn mit einem Stück Schnur. Deshalb kamen wir zu spät zur Vormittagsvorlesung – ihr erinnert euch –, das waren wir, die um halb elf reinkamen. Wir mussten hinten sitzen bleiben, neben diesem Lemarque aus dem zweiten Jahr, diesem blonden Schwein, diesem höhnischen Kerl aus dem Atelier. Erzähl ihnen, was er gesagt hat, als wir zu ihm in die Bank rutschten, Polaner!«
Polaner legte seinen Löffel neben die Suppenschale. »Was du denkst , das er gesagt hat.«
» Dreckige Juden hat er gesagt: Ich habe es genau gehört, laut und deutlich.«
Ben Yakov schaute Polaner an. »Ist das wahr?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Polaner. »Er hat was gesagt, aber ich habe es nicht richtig verstanden.«
»Wir haben es beide gehört. Alle um uns herum haben es gehört.«
»Du bist paranoid«, gab Polaner zurück, und die zarte Haut um seine Augen begann rot zu glühen. »Die anderen haben sich umgedreht, weil wir zu spät kamen, nicht weil er uns ›dreckige Juden‹ genannt hat.«
»Vielleicht ist so was üblich, wo du herkommst, hier ist es das jedenfalls nicht«, sagte Rosen.
»Ich will nicht mehr darüber sprechen«, sagte Polaner.
»Was soll man da schon machen?«, sagte Ben Yakov. »Manche Menschen sind und bleiben halt Idioten.«
»Dem Kerl eine Lektion erteilen«, sagte Rosen. »Das soll man machen.«
»Nein«, sagte Polaner. »Ich will keinen Ärger wegen
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