Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
zweiter Stock, Wohnung B.«
»Seit wann wohnst du da? Und wie lange?«
»Seit gestern Abend. Und noch anderthalb Tage, bis ich nach Bánhida zurückmuss.«
Mátyás lachte. »Dann kann man wohl sagen, ich habe dich gerade noch an den Hemdschößen erwischt.«
»Oder ich dich. Hast du Lust, zum Essen zu kommen?«
»Ich bin vielleicht schon anderweitig verabredet.«
»Und was ist, wenn diese Serafina erkennt, was für ein oberflächlicher junger Narr du bist?«
»In dem Fall komme ich sofort rüber.« Mátyás küsste Andras auf beide Wangen und sprang in die nächste Straßenbahn, die neben ihnen angehalten hatte.
Auf dem Heimweg hätte Andras eine Zeit lang selbst am liebsten gesteppt. Das Glück begünstigte ihn hin und wieder; es hatte ihm den unerwarteten Heimaturlaub beschert, und jetzt hatte es ihm auch noch Mátyás vorbeigeschickt. Doch selbst diese willkommene Überraschung konnte ihn nicht von seinen neuen Sorgen ablenken. Die Zeitung, die er am Nachmittag gekauft hatte, vermittelte ein ernüchterndes Bild der Entwicklung im Osten: Kiew war an die Deutschen gefallen, Hitlers Armeen standen rund hundertfünfzig Kilometer vor Leningrad und Moskau. In einer Rundfunkansprache zu Wochenbeginn hatte der Führer die bevorstehende Kapitulation der Sowjetunion verkündet. Andras befürchtete, dass die Briten, die sich im Mittelmeer erbittert behauptet hatten, jetzt die Hoffnung verlören; wenn ihre Verteidigungslinie bröckelte, würde Hitler über ganz Europa herrschen. Andras dachte an Rosen vor drei Jahren im La Colombe Bleue, als er behauptet hatte, Hitler wolle aus der ganzen Welt ein riesiges Nazi-Reich machen. Nicht einmal Rosen hätte vorhersagen können, in welchem Ausmaß jene Vermutung sich als wahr erweisen sollte. Deutschland hatte sich über die Landkarte Europas ausgedehnt wie vergossene Tinte. Und die Bewohner der eroberten Länder waren aus ihren Häusern vertrieben, in die Einöde deportiert, in Ghettos gesteckt oder in Arbeitslager verfrachtet worden. Andras hätte gerne geglaubt, dass Ungarn eine Zuflucht inmitten des Feuersturms darstellte; so etwas war hier in Budapest leichter zu glauben, weit entfernt von der Hitze und dem Gestank des Lagers Bánhida. Doch wenn Russland tatsächlich fiel, wäre kein Land in Europa mehr sicher, besonders nicht für Juden – ganz bestimmt nicht Ungarn, wo die Pfeilkreuzler in letzter Zeit bei jeder Wahl mehr Stimmen gewonnen hatten. In diese verwirrende Unsicherheit würde das Kind von Andras und Klara geboren werden. Allmählich verstand er, wie seine eigenen Eltern sich gefühlt haben mussten, als seine Mutter mit ihm während des Großen Krieges schwanger wurde, auch wenn die Situation damals anders gewesen war: Sein Vater war ungarischer Soldat gewesen, kein Zwangsarbeiter, und es hatte keinen wahnsinnigen Führer gegeben, der von einem judenfreien Europa träumte.
Zu Hause fand er Klara und Ilana gemeinsam am Küchentisch vor, wo sie über etwas Vertrauliches lachten. Ilanas Hände lagen in denen von Klara. Schon auf den ersten Blick war Andras klar, dass sich die Bindung zwischen den beiden in seiner Abwesenheit vertieft hatte; in ihren Briefen hatte Klara oft erwähnt, wie dankbar sie für Ilanas Gesellschaft sei, und er war erleichtert gewesen, dass die beiden nur wenige Straßen voneinander entfernt lebten und sich oft besuchten. Wenn Klara in Paris Ilanas Vertraute und Beschützerin gewesen war, so schien sie nun so etwas wie ihre ältere Schwester geworden zu sein. Kurz nach Ilanas Ankunft in Budapest, hatte Klara ihm erzählt, hätten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Montag- und Donnerstagmorgen zum Markt zu gehen. Als Tibor zum Munkaszolgálat eingezogen wurde, hatte Klara dafür gesorgt, dass Ilana nicht allzu einsam war; sie hatten gemeinsam gekocht, hatten Abende mit Klaras Schallplatten oder Ilanas Büchern verbracht, waren sonntagnachmittags über die Boulevards und durch die Parks gebummelt. An diesem Abend hatte Ilana kurz vor Andras’ Heimkehr eine süße, vertrackte Neuigkeit verkündet. Sie war schwanger. Nun wiederholte sie die Nachricht in ihrem zögerlichen Ungarisch. Es war während Tibors letztem Heimaturlaub passiert. Wenn alles gut ging, würden die Kinder im Abstand von zwei Monaten geboren werden. Ilana hatte Tibor geschrieben und eine Antwort erhalten, in der er ihr versicherte, es ginge ihm gut, seine Kompanie sei weit entfernt von den gefährlichen Kampfhandlungen weiter im Osten, das Sommerwetter mache
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