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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Praxis von Architektur ging, war sein Kopf so leer und planlos wie der Zeichentisch vor ihm. Die Arbeit, mit der er sich in den vergangenen zwei Jahren beschäftigt hatte, wenn er nicht gerade Bäume fällte, Straßen baute oder Kohle schaufelte – in Notizbüchern herumkritzeln, Männchen an den Rand von Mendels Zeitung malen –, mochte seine Hände vor dem Nichtstun bewahrt haben; eventuell hatte sie ihn selbst sogar vor dem Wahnsinn geschützt. Doch ebenso sehr hatte sie ihn von der Tatsache abgelenkt, dass sein Leben als Architekturstudent in immer weitere Ferne rückte, dass seine Hände ihre Erinnerung daran verloren, wie man einen perfekten Strich zog, dass seinem Kopf die Fähigkeit abhandenkam, Probleme von Form und Funktion zu lösen. Wie weit entfernt von dem Atelier an der École Spéciale er sich nun fühlte, wo er mit Polaner eine frei schwebende Laufbahn konstruiert hatte. Verblüffend, dass sie so eine Idee gehabt hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er ein Gebäude mit irgendeinem Gedanken im Kopf angesehen hatte, außer der Hoffnung, das Dach würde nicht lecken und die Mauer den Wind abhalten. Er hatte kaum darauf geachtet, wie die Fassade des Hauses aussah, in dem er sich jetzt befand.
    Er hätte so gerne mit Tibor gesprochen. Tibor würde wissen, was Andras tun sollte, wie er Klara schützen könnte und wieder Herr über sein Leben würde. Aber Tibor war dreihundert Kilometer weit weg in den Karpaten. Andras konnte sich nicht vorstellen, wann sie das nächste Mal zusammensitzen würden, um sich darüber klar zu werden, wer sie eigentlich waren, oder zumindest um sich mit ihrer gemeinsamen Unsicherheit zu trösten.
    Wie es der Zufall wollte, war es sein jüngerer Bruder – der, dessen Aufgabe es immer gewesen war, Ärger zu verursachen statt ihn zu beseitigen –, der während Andras’ Heimaturlaub in Budapest auftauchte. Mátyás war mit dem Rest seiner Kompanie in den Bahnhof Nyugati gerollt, sie waren in die Nähe versetzt worden, während sie auf eine Verlegung warteten, und Mátyás war vom Zug gesprungen und hatte sich selbst einen Heimaturlaub genehmigt. Seine Kompanie wurde von einem nachlässigen jungen Offizier geführt, der seinen Leuten erlaubte, sich gelegentlich von der Arbeit freizukaufen. Da Mátyás während seiner Zeit als Schaufensterdekorateur Geld gespart hatte, erkaufte er sich einige freie Tage, um ein Ladenmädchen zu treffen, das er bei einem seiner Aufträge kennengelernt hatte. Er ahnte nicht, dass Andras ebenfalls Heimaturlaub hatte, und so war es reiner Zufall, dass Mátyás am Montagnachmittag hinten auf einen Straßenbahnwagen sprang und plötzlich seinem Bruder gegenüberstand. Er war so überrascht, dass er heruntergefallen wäre, wenn Andras nicht nach seinem Arm gegriffen und ihn festgehalten hätte.
    »Was machst du denn hier?«, rief Mátyás. »Du müsstest doch im Bergwerk schuften!«
    »Und du müsstest eigentlich … was tun?«
    »Brücken bauen. Aber nicht heute! Heute treffe ich ein Mädchen namens Serafina.«
    Eine ältere Frau mit Kopftuch warf ihnen einen tadelnden Blick zu, als dürfe man in einer Straßenbahn keine so laute, lebhafte Unterhaltung führen. Doch Andras zog Mátyás’ Kopf nah an seinen und sagte zu der Frau: »Das ist mein Bruder, sehen Sie nicht? Mein Bruder!«
    »Ihre Eltern müssen Esel sein«, gab die Frau zurück.
    »Verzeihen Sie, Majestät«, sagte Mátyás. Er tippte sich an die Mütze und vollführte vom seitlichen Geländer der Straßenbahn einen perfekten Salto rückwärts auf den Bürgersteig, so schnell, dass die Frau einen spitzen Schrei ausstieß. Während die anderen Fahrgäste staunend zusahen, steppte Mátyás mit weicher Sohle einen Rhythmus auf das Pflaster und sprang leichtfüßig auf den Bordstein, scheuchte die Passanten auf; drehte sich zweimal um die eigene Achse, riss seine Mütze herunter und verbeugte sich vor einer jungen Frau in einem blauen Mantel. Alle, die zugesehen hatten, jubelten. Andras sprang aus dem Straßenbahnwagen und wartete, bis sein Bruder sich oft genug verbeugt hatte.
    »Unnötige Torheit«, sagte Andras, als der Applaus verklungen war.
    »Das muss ich mir auf eine Fahne malen lassen, die ich immer bei mir trage.«
    »Nur zu! Dann wären wenigstens alle gewarnt.«
    »Wohin gehst du mit einer Markttasche voller Kartoffeln?«, fragte Mátyás.
    »Nach Hause, in meine Wohnung, wo meine Frau auf mich wartet.«
    » Deine Wohnung? Was für eine Wohnung?«
    »Nefelejcs utca 39,

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