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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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die Hand am Rock und lief in eine Wohnung im Erdgeschoss. Klara führte Andras in ein offenes Treppenhaus mit einem Geländer im Weinrankenmuster, und sie stiegen drei Treppen aus flachen Stufen hinauf. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete Klara eine Doppeltür und führte Andras in eine Wohnung. Es roch nach gebratenem Hühnchen und Röstkartoffeln. Neben der Tür waren vier Messinghaken angebracht; ein alter Homburg von Andras hing an einem, Klaras grauer Mantel an einem anderen Haken.
    »Das kann nicht unsere Wohnung sein«, sagte Andras.
    »Wessen denn sonst?«
    »Unmöglich. Sie ist zu fein.«
    »Du hast sie doch noch gar nicht gesehen. Urteile nicht so schnell. Vielleicht findest du, dass sie überhaupt nicht nach deinem Geschmack ist.«
    Doch natürlich war sie genau nach Andras’ Geschmack. Klara wusste nur zu gut, was ihm gefiel. Die Küche war rot gefliest, es gab ein Schlafzimmer für Andras und Klara, ein zweites kleines Zimmer, das dem Kind gehören sollte, ein eigenes Bad mit einer Emaillewanne. Das Wohnzimmer war mit Regalen gesäumt, die Klara mit neuen Büchern über Ballett, Musik und Architektur zu füllen begonnen hatte. In einer Ecke stand ein Zeichentisch aus Holz, ein entfernter ungarischer Cousin des anderen, den Klara Andras in Paris geschenkt hatte. Ein Grammofon thronte auf einem dünnbeinigen Hocker in einer anderen Ecke. Am hinteren Ende stand ein niedriges Sofa vor einem Holztisch mit einer Intarsienarbeit. Zwei crèmefarben gestreifte Sessel flankierten die hohen Fenster mit dem Blick auf das gelbe Mietshaus auf der anderen Straßenseite.
    »Es ist ein richtiges Zuhause«, sagte Andras. »Du hast uns ein Zuhause geschaffen.« Und er nahm sie in die Arme.
    Was er sich in der kurzen Zeit seines Heimaturlaubs am meisten wünschte, erklärte er Klara, sei das Vorrecht, sich um die Bedürfnisse seiner schwangeren Frau zu kümmern. Anfangs sträubte sie sich, wies ihn darauf hin, dass er in Bánhida niemand habe, der sich um ihn kümmere. Doch er führte an, dass es ein weitaus größerer Luxus für ihn sei, sie zu pflegen, als selbst gepflegt zu werden. Und so erlaubte sie ihm am ersten Abend, nachdem sie das gebratene Hühnchen und die Kartoffeln gegessen hatten, ihr Kaffee zu machen, aus der Zeitung vorzulesen, ihr anschließend ein Bad einlaufen zu lassen und sie mit dem großen gelben Schwamm zu waschen. Ihr schwangerer Körper war ein Wunder für ihn. Unter ihrer blassen Haut hatte sich ein rosa Blühen entwickelt, und ihr Haar war dichter und glänzender. Er wusch es und zog es nach vorne, legte es ihr über die Brüste. Die Warzenhöfe waren größer und dunkler geworden, und eine schwachbraune Linie hatte sich zwischen ihrem Nabel und dem Schamhaar gebildet, durchschnitten von der silbrigen Narbe ihrer ersten Schwangerschaft. Ihre Knochen zeichneten sich nun nicht mehr so deutlich unter der Haut ab. Am auffälligsten war der undurchdringliche, nach innen gerichtete Blick in ihren Augen – eine so tief gehende Mischung aus Traurigkeit und Vorfreude, dass es fast eine Erleichterung war, wenn Klara die Lider senkte. Als sie sich in der Badewanne zurücklehnte und die Arme am Emaille kühlte, traf Andras die Einsicht, dass sein Leben in Bánhida auf die einfachsten Bedürfnisse und Gefühle reduziert war: die Hoffnung auf ein Möhrenstückchen in der Suppe, die Angst vor dem Zorn des Vorarbeiters, der Wunsch nach einer Viertelstunde mehr Schlaf. Klara in der größeren Sicherheit hier in Budapest hatte Gelegenheit zu komplizierteren Gedankengängen gehabt. Während er ihr zusah, während er sie mit dem gelben Schwamm wusch, arbeitete es in ihr.
    »Erzähl mir, was du gerade denkst«, sagte er. »Ich kann es nicht raten.«
    Sie öffnete ihre grauen Augen und sah ihn an. »Wie sonderbar das ist«, sagte sie. »Schwanger zu sein, während Krieg herrscht. Wenn Hitler ganz Europa in der Hand hat und Russland noch dazu, wer kann dann sagen, was aus diesem Kind wird? Wir brauchen uns nicht vorzumachen, dass Horthy uns irgendwie beschützen könnte.«
    »Meinst du, wir sollten versuchen zu emigrieren?«
    Sie seufzte. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe sogar Elisabet geschrieben. Aber die Lage ist so, wie ich erwartet habe. Es ist inzwischen fast unmöglich, ein Einreisevisum für die USA zu bekommen. Selbst wenn es uns gelänge, bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich will. Unsere Familien sind hier. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Mutter ein zweites Mal zu verlassen, schon gar

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