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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Mátyás einen Spaziergang durch den milden Septemberabend. Von der Nefelejcs utca waren es nur wenige Querstraßen bis zum Stadtwäldchen mit der malerischen Vajdahunyad-Burg. Die Wege waren selbst zu dieser Stunde voller Fußgänger; in den schattigen Nischen der Burgmauer sah man Männer und Frauen, die sich in trügerischer Intimität aneinanderschmiegten. Jetzt, da die Brüder allein waren, hatte sich Mátyás’ Enthusiasmus gelegt. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als sei ihm trotz der warmen Luft kalt. Sein Dienst im Munkaszolgálat schien seine Züge irgendwie geschärft zu haben; der Ausdruck schien härter und ausdrucksstärker geworden zu sein. Seine hohe Stirn und die hervorstehenden Wangenknochen, die denen ihrer Mutter so stark glichen, verliehen ihm einen Ernst, der im Widerspruch zu seiner ansonsten so schelmischen Art stand.
    »Meine Brüder haben wunderschöne Frauen«, sagte er. »Ich würde lügen, wenn ich behauptete, nicht neidisch zu sein.«
    »Na, dann wäre ich auch reichlich enttäuscht.«
    »Wirst du wirklich bald Vater?«
    »Sieht so aus.«
    Mátyás pfiff leise vor sich hin. »Aufgeregt?«
    »Ich habe eine Riesenangst.«
    »Unsinn. Du wirst das wunderbar machen. Und Klara hat das alles schon mal gemeistert.«
    »Ihr Kind wurde nicht im Krieg geboren«, bemerkte Andras.
    »Nein, aber damals hatte sie auch keinen Mann.«
    »Sie schien deshalb nicht schlechter dran zu sein. Sie hatte Arbeit. Sie hat ihre Tochter großgezogen. Elisabet wäre vielleicht ein netteres Mädchen geworden, wenn sie eine richtige Familie gehabt hätte – einen Bruder oder eine Schwester zum Spielen und einen Vater, der nicht zugelassen hätte, dass sie sich ihrer Muter gegenüber so gemein benimmt. Aber letztendlich hat sie sich doch ganz gut entwickelt. Ich bin als Ehemann keine große Stütze. Bis jetzt bin ich nur ein Mühlstein an Klaras Hals gewesen.«
    »Du wurdest eingezogen«, sagte Mátyás. »Du musstest dienen. Ist ja nicht so, als hättest du eine Wahl gehabt.«
    »Ich habe mein Studium nicht abgeschlossen. Ich kann nicht einfach nach Hause gehen und anfangen, als Architekt zu arbeiten.«
    »Dann gehst du halt noch mal zur Hochschule.«
    »Wenn ich da noch reinkomme. Aber was das alles kostet, und wie lange es dauert!«
    »Was du brauchst«, sagte Mátyás, »ist eine gut bezahlte Arbeit, die nicht deine ganze Zeit in Anspruch nimmt. Warum machen wir uns nicht zusammen selbstständig?«
    »Was, als Stepptänzer? Kannst du dir vorstellen, dass wir zusammen auf der Bühne stehen? Die unglaublichen Lévi-Brüder?«
    »Nein, du Dummkopf. Wir arbeiten als Schaufensterdekorateure. Zu zweit geht die Arbeit doppelt so schnell von der Hand. Ich entwerfe, und du führst aus. Wir hätten doppelt so viele Kunden.«
    »Ich weiß nicht, ob ich mir von dir etwas sagen lassen könnte«, überlegte Andras. »Du würdest mich schikanieren, wann immer du kannst.«
    »Womit willst du dann dein Geld verdienen? An der Straßenecke sitzen und Karikaturen malen?«
    »Ich habe nachgedacht«, sagte Andras. »Mein alter Freund Mendel Horovitz hat beim Budapester Abendkurier gearbeitet, bevor er zum Munkaszolgálat musste. Er meint, die suchen immer Grafiker und Illustratoren. Und die Bezahlung ist nicht schlecht.«
    »Ach! Aber da würdest du auch nur ausführen, was jemand anders sagt.«
    »Wenn ich mich schon nach anderen richten muss, dann am liebsten auf einem Gebiet, wo ich Erfahrung habe.«
    »Was für Erfahrung?«
    »Na, zum einen meine alte Stelle bei Vergangenheit und Zukunft . Und dann bei den Zeitungen, die Mendel und ich herausgegeben haben – du weißt schon, von denen ich dir geschrieben habe. Ich hätte dir eine mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, dass ich dich sehen würde.«
    »Verstehe«, sagte Mátyás. »Schaufenster dekorieren ist dir nicht schick genug. Nicht nach deiner feinen Ausbildung in Paris.« Er neckte seinen Bruder, doch sein Gesichtsausdruck verriet einen Anflug von Kränkung. Andras musste an die verbitterten Briefe denken, die Mátyás von Debrecen aus an Andras in Paris geschrieben hatte – die, in denen er eine gleichwertige Ausbildung für sich eingefordert hatte. Dann war der Krieg ausgebrochen, und Mátyás saß in Ungarn fest, arbeitete zuerst als Schaufensterdekorateur und dann beim Munkaszolgálat. Beschämt wurde Andras klar, dass er tatsächlich der Ansicht war, sein Bruder sollte es zu mehr bringen als zu einer Stellung als Dekorateur, die für ihn den Beigeschmack

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