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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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haben könnte; vielleicht hatte Vago seine Hilfe in Anspruch genommen. Möglicherweise hatte Perret einen gewissen Einfluss auf Freunde im Ausland geltend gemacht und wollte die gute Nachricht nun persönlich überbringen.
    Andras hastete die zwei Treppen zu dem Gang hinauf, an dem die privaten Büros der Professoren untergebracht waren, und blieb vor Perrets geschlossener Tür stehen. Von innen hörte er Perret und Vago mit gesenkten Stimmen sprechen. Andras klopfte an. Vago rief ihn herein, Andras öffnete die Tür. Vor einem der hohen Fenster, die auf den Boulevard Raspail gingen, stand Professor Perret in Hemdsärmeln hell im Sonnenlicht. Vago lehnte an Perrets Schreibtisch und hielt ein Telegramm in der Hand.
    »Guten Tag, Andras«, sagte Perret und drehte sich vom Fenster fort. Er machte Andras Zeichen, sich in den tiefen Ledersessel neben dem Schreibtisch zu setzen. Andras nahm Platz und ließ seine Tasche zu Boden gleiten. Die Luft in Perrets Büro war schwer und stickig. Anders als in Vagos Büro, wo sich die Zeichnungen an den Wänden drängten, Skulpturen herumstanden und Projekte vom Werktisch quollen, herrschte hier Ordnung und Schlichtheit. Drei Stifte lagen parallel auf dem mit Saffianleder überzogenen Tisch; Holzregale beherbergten säuberlich aufgerollte Grundrisse, auf einer Konsole stand ein akkurates weißes Modell des Théâtre des Champs-Elysées in einem Glaskasten.
    Perret räusperte sich und begann zu sprechen. »Wir haben eine beunruhigende Nachricht aus Ungarn erhalten. Wirklich ziemlich beunruhigend. Vielleicht ist es einfacher, wenn Professor Vago Ihnen den Sachverhalt auf Ungarisch erklärt. Obwohl ich gehört habe, dass sich Ihr Französisch beträchtlich verbessert hat.« Er sprach nicht mehr im Kasernenhofton und warf Andras einen so freundlichen, bedauernden Blick zu, dass der feuchte Hände bekam.
    »Es ist ziemlich kompliziert«, sagte Vago auf Ungarisch. »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich habe eine Nachricht vom Vater meines Freundes bekommen, dem Professor. An der Medizinischen Fakultät von Modena wurde ein Platz für Ihren Bruder frei.«
    Vago machte eine Pause. Andras hielt die Luft an und wartete.
    »Professor Turano schrieb an die jüdische Organisation, die Ihr Stipendium zahlt. Er erkundigte sich, ob auch Geld für Tibor zur Verfügung stünde, doch seine Anfrage wurde mit Bedauern abgewiesen. In dieser Woche wurden neue Einschränkungen in Ungarn eingeführt: Von heute an darf keine Organisation mehr Geld an jüdische Studenten im Ausland schicken. Ihr Unterstützungsfonds vom Hitközség wurde von der Regierung eingefroren.«
    Andras sah Vago blinzelnd an und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.
    »Das ist nicht nur ein Problem für Tibor«, fuhr Vago fort und schaute Andras dabei in die Augen. »Das ist auch ein Problem für Sie. Kurz gesagt: Ihr Stipendium wird nicht länger gezahlt. Um ehrlich zu sein, mein junger Freund, es ist noch nie gezahlt worden. Der Scheck für Ihren ersten Monat traf hier nie ein, deshalb habe ich die Gebühren aus meiner eigenen Tasche ausgelegt, weil ich dachte, es sei lediglich eine kurzfristige Verzögerung.« Er hielt inne und warf Professor Perret einen Seitenblick zu, der verfolgte, wie Vago die Nachricht auf Ungarisch überbrachte. »Monsieur Perret weiß nicht, woher das Geld stammt, er braucht es auch nicht zu wissen, deshalb zeigen Sie sich bitte unbeeindruckt. Ich habe ihm gesagt, alles sei in Ordnung. Aber ich bin leider kein reicher Mann und kann Ihre Studiengebühren nicht noch einen Monat zahlen, auch wenn ich es gerne täte.«
    Eine Eisscholle setzte sich in Andras’ Brust fest, langsam und kalt. Seine Studiengebühren konnten nicht länger gezahlt werden. Sie waren nie bezahlt worden. Auf einmal verstand er Perrets Freundlichkeit und Bedauern.
    »Wir halten Sie für einen begabten Studenten«, sagte Perret auf Französisch. »Wir möchten Sie nicht verlieren. Kann Ihre Familie einspringen?«
    »Meine Familie?« Andras’ Stimme klang dünn und schwach in dem hohen Raum. Er sah seinen Vater vor sich, der Eichenbretter im Sägewerk stapelte, seine Mutter, die ein Kartoffelpaprikás im Ofen der Außenküche schmorte. Er dachte an das Paar grauer Seidenstrümpfe, das er ihr zehn Jahre zuvor an Chanukka geschenkt hatte – wie sie sie zu einem keuschen Viereck gefaltet, in Einschlagpapier aufbewahrt und nur für die Synagoge angezogen hatte. »Meine Familie hat nicht das Geld«, sagte er.
    »Das ist

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