Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
schrecklich«, sagte Perret. »Ich würde so gerne etwas für Sie tun. Vor der Wirtschaftskrise haben wir selbst eine größere Zahl von Stipendien vergeben, aber jetzt …« Er schaute aus dem Fenster auf die tiefen Wolken und strich sich über seinen militärischen Bart. »Ihre Kosten werden bis zum Ende des Monats übernommen. Wir werden schon vorher sehen, was wir tun können, aber ich kann Ihnen leider nicht viel Hoffnung machen.«
Andras übersetzte die Worte für sich: nicht viel Hoffnung .
»Was Ihren Bruder angeht«, sagte Vago, »das ist eine verdammte Schande. Turano wollte ihm so gerne helfen.«
Andras versuchte den Schock abzuschütteln, der ihn ergriffen hatte. Sie mussten das mit Tibor und dem Geld verstehen. »Das ist unwichtig«, sagte er und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Das Stipendium ist unwichtig – für Tibor, meine ich. Er spart seit sechs Jahren. Er müsste genug für die Eisenbahnfahrt und das erste Unterrichtsjahr haben. Ich telegrafiere ihm noch heute Abend. Kann der Vater Ihres Freundes den Studienplatz für ihn freihalten?«
»Ich denke schon«, sagte Vago. »Ich werde ihm umgehend schreiben, wenn Sie das Studium für machbar halten. Aber vielleicht kann Ihr Bruder auch Ihnen helfen, wenn er Geld zur Seite gelegt hat.«
Andras schüttelte den Kopf. »Das kann ich ihm nicht zumuten. Er hat nicht genug für uns beide gespart.«
»Es tut mir furchtbar leid«, sagte Perret erneut, trat vor und gab Andras die Hand. »Professor Vago hat mir gesagt, Sie seien ein sehr einfallsreicher junger Mann. Vielleicht findet sich doch noch eine Möglichkeit. Ich werde sehen, was wir tun können.«
Es war das erste Mal, dass Perret Andras berührte. Er hatte das Gefühl, als habe man ihm gerade gesagt, er sei unheilbar krank, als habe der Schatten des nahe bevorstehenden Todes Perret erlaubt, auf Formalitäten zu verzichten. Der Direktor klopfte Andras auf den Rücken und führte ihn zur Bürotür. »Nur Mut!«, sagte er, salutierte und entließ ihn in den Flur.
Andras stieg durch das staubig gelbe Licht der Treppe nach unten, vorbei an dem Raum, wo seine Zeichnung vom Gare d’Orsay verlassen auf dem Tisch lag, vorbei an der schönen Lucia im Sekretariat und durch die blauen Türen der Schule, die als seine zu betrachten er sich angewöhnt hatte. Er ging den Boulevard Raspail hinab, bis er das Postamt erreichte, wo er um ein Telegrammformular bat. Auf die schmalen blauen Zeilen schrieb er die Botschaft, die er sich unterwegs zurechtgelegt hatte: PLATZ AN DER UNIVERSITÄT MODENA FÜR DICH GEFUNDEN DANK FREUND VON VAGO . SOFORT REISEPASS UND VISA BESORGEN . HURRA ! Kurz erwog er in einem Nebel von Selbstmitleid, das HURRA ! wegzulassen. Doch im letzten Moment fügte er es hinzu, zahlte die zusätzlichen zehn Centimes und ging wieder nach draußen auf den Boulevard. Die Autos zischten weiter an ihm vorbei, die Nachmittagssonne schien genau wie immer, die Fußgänger eilten mit ihren Einkäufen, ihren Zeitungen und ihren Büchern das Trottoir entlang, die ganze Stadt war gleichgültig gegenüber dem, was gerade in diesem Büro in der École Spéciale stattgefunden hatte.
Ohne etwas wahrzunehmen und mit völlig leerem Kopf, ging Andras durch die enge Kurve der Rue de Fleurus in Richtung Jardin de Luxembourg, wo er eine grüne Bank im Schatten einer Platane fand. Von hier aus konnte man die Bienenstöcke sehen, und Andras schaute zu, wie der Imker unter seiner Kapuze die Holzrahmen prüfte. Kopf, Arme und Beine des Imkers waren mit schwarzen Bienen übersät. Betäubt vom Qualm, krochen sie langsam über den Körper des Imkers. In der Schule hatte Andras gelernt, dass es Bienen gab, die sich verändern konnten, wenn die Umstände es erforderten. Wenn die Königin starb, wurde sie von einer anderen Biene ersetzt; sie legte ihr bisheriges Leben ab und bekam einen neuen Körper, eine neue Rolle. Auf einmal konnte sie Eier legen und sich mit ihrer Dienerschaft über die Gesundheit des Staates austauschen. Er, Andras, war als Jude geboren und hatte den Mantel dieser Identität zweiundzwanzig Jahre lang getragen. Am achten Tag seines Lebens war er beschnitten worden. Auf dem Schulhof hatte er den Spott der christlichen Kinder und im Klassenzimmer die Herablassung der Lehrer ertragen, wenn er am Schabbes nicht zur Schule gehen durfte. An Jom Kippur hatte er gefastet, am Schabbes war er zur Synagoge gegangen, mit dreizehn hatte er aus der Thora vorgelesen und war nach jüdischer Tradition ein
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