Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Mann geworden. In Debrecen ging er zum jüdischen Gimnázium, und nach seinem Abschluss hatte er eine Stellung bei einer jüdischen Zeitschrift bekommen. Er hatte mit Tibor im jüdischen Viertel von Budapest gewohnt und war mit ihm zur Synagoge auf der Dohány utca gegangen. Er war mit dem Gespenst des Numerus clausus in Berührung gekommen, hatte sein Heim und seine Familie verlassen, um nach Paris zu gehen. Aber selbst hier gab es Menschen wie Lemarque, gab es Studentenverbindungen, die gegen Juden demonstrierten, und es gab antisemitische Zeitungen. Und jetzt musste er diese neue Last tragen, diesen neuen Zores. Während Andras auf der Bank im Jardin de Luxembourg saß, versuchte er sich vorzustellen, wie es wohl wäre, sein Jüdischsein hinter sich zu lassen, das Gewand seiner Religion abzulegen wie einen Mantel, der bei heißem Wetter zu warm geworden war. Er erinnerte sich daran, wie er im September in der Sainte-Chapelle gestanden hatte, erinnerte sich an die Heiligkeit und Stille des Ortes, an die wenigen Zeilen, die er aus der lateinischen Messe kannte und die ihm jetzt durch den Kopf schwebten: Kyrie eleison, Christe eleison . Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich.
Im ersten Moment erschien es ihm einfach und klar: ein Christ werden, nein, nicht nur ein Christ – ein römisch-katholischer Christ, einer jener Christen, die Notre-Dame, die Sainte-Chapelle, den Mátyás Templom in der Basilika von Szent István in Budapest erbaut hatten. Sein bisheriges Leben ablegen, ein neues beginnen. Nehmen, was ihm vorenthalten worden war. Erbarmen finden.
Doch als er an Erbarmen dachte, war es der jiddische Begriff, der ihm in den Sinn kam: rachmones , eine Ableitung von rechem , dem hebräischen Wort für Schoß. Rachmones : ein so tiefes und unbestrittenes Gefühl wie das, was eine Mutter für ihr Kind empfindet. Jedes Jahr hatte er in der Synagoge in Konyár am Vorabend von Jom Kippur darum gebetet. Er hatte um Vergebung gefleht, hatte gefastet und am Ende von Jom Kippur ein Gefühl der inneren Säuberung empfunden. Jedes Jahr hatte er das Bedürfnis verspürt, seine Seele zur Rechenschaft zu ziehen, zu vergeben und Vergebung zu erfahren. Jedes Jahr hatten seine Brüder in der Synagoge neben ihm gestanden – Mátyás klein und hitzig zu seiner Linken, Tibor schlank und sonor zu seiner Rechten. Neben ihnen stand der Vater im vertrauten Tallit und hinter der Abtrennung die Mutter – geduldig, nachsichtig, zuverlässig in ihrer Gegenwart, selbst wenn sie sie nicht sehen konnten. Andras konnte genauso wenig aufhören, ein Jude zu sein, wie er aufhören konnte, seinen Brüdern ein Bruder, seinen Eltern ein Sohn zu sein.
Andras erhob sich, warf dem Imker und seinen Bienen einen letzten Blick zu und ging durch den Park nach Hause. Jetzt dachte er nicht mehr daran, was passiert war, sondern was er als Nächstes würde tun müssen: Arbeit finden, eine Möglichkeit suchen, das Geld zu verdienen, das er brauchte, um an der Schule zu bleiben. Er war natürlich kein Franzose, aber das war egal; in Budapest wurden Tausende von Arbeitern unter der Hand bezahlt, und niemand störte sich daran. Der nächste Tag war ein Samstag. Die Büros würden geschlossen haben, aber Geschäfte und Restaurants waren geöffnet – Bäckereien, Lebensmittelhändler, Buchhandlungen, Läden für Künstlerbedarf, Brasserien, Herrenbekleider. Wenn Tibor Vollzeit in einem Schuhgeschäft arbeiten und abends in seinen Anatomiebüchern lernen konnte, dann konnte Andras auch arbeiten und zur Schule gehen. Als er die Rue des Écoles erreicht hatte, bildete er in Gedanken bereits die notwendigen Sätze: Ich suche Arbeit. Auf Ungarisch: Állást keresek . Auf Französisch: Je cherche … je cherche … Er kannte das Wort: boulot . Arbeit.
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5.
Théâtre Sarah-Bernhardt
IN JENEM HERBST WURDE im Sarah-Bernhardt jeden Abend, außer montags, um neun Uhr Bertolt Brechts Die Mutter gespielt. Das Theater lag mitten im Stadtzentrum, an der Place du Châtelet. Es bot sieben Ränge mit luxuriösen Sitzen und die aufregende Gewissheit, dass die Stimme von Mademoiselle Bernhardt diesen Raum erfüllt, diesen Kronleuchter an seiner Kette hatte erzittern lassen. Irgendwo im Innern des Theaters war die beige-golden getäfelte Garderobe mit der güldenen Badewanne, in der die Schauspielerin Gerüchten zufolge in Champagner gebadet hatte. Am ersten Samstag im November war die Truppe zu einer außerplanmäßigen Probe einberufen worden; Claudine
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