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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Soldaten und eng geschnürten Damen. Vor der Tür trat der alte Mann beiseite, um sie hereinzulassen, dann zog er sich ins Wohnzimmer zurück.
    Die Türschwelle bildete den Eingang zu einer völlig anderen Welt. Auf einer Seite war das Universum, das sie gerade verlassen hatten, wo das Frühstück in einem Sonnenstrahl auf einem Holztisch stand, das Meckern der Ziegen vom Hof hereinwehte und ein Dutzend Fotografien daran erinnerte, was vergangen war; auf der anderen Seite, in diesem Zimmer, befanden sich Dinge, die wie die Ausstattung eines Spionageunternehmens aussahen. Die Wände waren mit nadelgespickten Landkarten von Europa und dem Mittelmeer behängt, mit komplizierten Flussdiagrammen, Zeitungsausschnitten und Fotografien von Männern und Frauen, die in der staubigen Erde einer Wüstensiedlung arbeiteten. Auf dem Schreibtisch, eingezwängt zwischen schwankenden Stapeln offiziell wirkender Unterlagen, standen zwei Schreibmaschinen, eine mit ungarischer Tastatur, die andere mit hebräischer. Ein Orion-Radio wimmerte und knackte auf einem niedrigen Tisch, und ein Uhrenquartett daneben verriet die Zeit in Constanţa, Istanbul, Kairo und Jerusalem. Zeitungen und Akten erhoben sich im gesamten Zimmer zu hüfthohen Bergen, belagerten den Schreibtisch, das Bett, jeden Zentimeter von Fensterbank und Tisch. In der Mitte dieses Chaos stand ein blasser junger Mensch in einem mottenzerfressenen Pullover, sein kurzes schwarzes Haar erinnerte an eine gezackte Krone, seine Augen waren wund und rot, wie von Alkohol oder Trauer. Er schien ungefähr in Andras’ Alter zu sein und war zweifellos der kleine Junge von den Fotos, herangewachsen zu diesem hageren jungen Mann. Er zog den Schreibtischstuhl hervor, stellte einen Aktenstapel auf den Boden, setzte sich hin und sah die Brüder an.
    »Es ist vorbei«, sagte er statt einer Begrüßung. »Ich mache es nicht mehr.«
    »Uns wurde gesagt, Sie könnten uns vielleicht helfen«, erklärte Tibor.
    »Wer hat euch das gesagt?«
    »Eine Frau mit zwei kleinen Töchtern. Anfangsbuchstabe B. Sie hat gehört, wie ich mich mit meinem Bruder in einem Café unterhielt.«
    »Worüber?«
    »Darüber, wie man aus Ungarn herauskommt«, erwiderte Tibor. »Auf welche Weise.«
    »Zuerst mal«, sagte Klein und wies mit seinem schmalen Finger auf Tibor, »hätten Sie mit Ihrem Bruder nicht in einem Café über so etwas reden sollen, wo jeder Sie hätte hören können. Zweitens sollte ich diese Frau erwürgen, wer auch immer sie ist, weil sie euch meine Adresse gegeben hat! Anfangsbuchstabe B? Zwei kleine Mädchen?« Er legte die Finger auf die Stirn und schien zu überlegen. »Bruner«, sagte er. »Magdolna. Muss sie sein. Ich habe ihren Bruder rausgebracht. Aber das ist zwei Jahre her.«
    »Und das machen Sie?«, fragte Andras. »Sie organisieren Ausreisen?«
    »Habe ich früher«, sagte Klein. »Aber jetzt nicht mehr.«
    »Was ist dann das hier alles?«
    »Laufende Projekte«, gab Klein zurück. »Aber ich nehme keine neue Arbeit mehr an.«
    »Wir müssen das Land verlassen«, sagte Tibor. »Ich bin gerade im Délvidék gewesen. Dort töten sie ungarische Juden. Es dauert nicht mehr lange, dann holen sie auch uns. Wir haben gehört, dass Sie uns bei der Ausreise helfen können.«
    »Das habt ihr falsch gehört«, sagte Klein. »Es ist jetzt nicht mehr möglich. Seht euch das hier an.« Er zog einen Ausschnitt aus einer rumänischen Zeitung hervor. »Das ist gerade vor wenigen Wochen passiert. Dieses Schiff verließ Constanţa im Dezember. Die Struma . Siebenhundertneunundsechzig Passagiere, sämtlich rumänische Juden. Man sagte ihnen, sie bekämen Einreisevisa für Palästina, sobald das Schiff die Türkei erreichte. Aber das Schiff war ein Wrack. Im wahrsten Sinne des Wortes. Den Motor hatten sie vom Grunde der Donau gefischt. Und es gab keine Einreisevisa. Alles Betrug. Vielleicht wären sie früher einmal ohne Visa hereingekommen – die Briten ließen immer ein paar Leute ohne Dokumente durch. Jetzt nicht mehr! Großbritannien nahm das Schiff nicht. Niemand wurde genommen, nicht einmal die Kinder. Ein Boot der türkischen Küstenwache schleppte die Struma ins Schwarze Meer. Dort blieb sie liegen. Ohne Treibstoff, ohne Wasser, ohne Nahrung für die Passagiere. Wie, glaubt ihr, ging es weiter? Das Schiff wurde von einem Torpedo getroffen. Wumm. Ende der Geschichte. Man nimmt an, dass es die Sowjets waren.«
    Andras und Tibor saßen schweigend da, verarbeiten das Gehörte.

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