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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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sagte Andras. Natürlich waren sie nicht sicher. Es verging keine Minute, in der er nicht daran dachte. Und die Gefahr war größer, als Tibor ahnte: Andras hatte ihm noch nicht von Klara und dem Justizministerium erzählt.
    »Die Bedrohung ist hier im Land«, sagte Tibor. »Wir belügen uns selbst, wenn wir denken, es wird schon gut gehen, solange Horthy eine Besatzung der Deutschen abwenden kann. Was ist mit den Pfeilkreuzlern? Was ist mit dem guten alten ungarischen Fanatismus?«
    »Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?«, fragte Andras.
    »Ich sag dir was«, erwiderte Tibor. »Ich will weg von diesem Kontinent. Ich will meine Frau und meinen Sohn hier rausbringen. Wenn wir in Europa bleiben, werden wir sterben.«
    »Wie sollen wir denn rauskommen? Die Grenzen sind dicht. Man bekommt keine Reisepapiere. Kein Land wird uns reinlassen. Und dann haben wir die beiden Kleinen. Die Vorstellung ist schon schlimm genug, es allein zu versuchen.« Er schaute sich über die Schulter um; es war gefährlich, öffentlich über solche Themen zu reden. »Wir können jetzt nicht gehen«, sagte er. »Das ist unmöglich.«
    Die Frau am Nebentisch warf einen Blick in Richtung von Andras und Tibor; ihre dunklen Augen huschten zwischen ihnen hin und her. An der Kuchentheke hatten ihre Töchter sich entschieden; die ältere drehte sich um und rief nach der Mutter. Sie stand auf und zog Mantel und Mütze an. Als sie durch den schmalen Spalt zwischen den Tischen schlüpfte, nickte sie Andras und Tibor kurz zu. Erst als sie mit ihren Mädchen durch die Cafétüren aus facettiertem Glas verschwunden war, merkte Andras, dass sie ihr Taschentuch auf dem Tisch hatte liegen lassen. Es war ein edles Leinentuch mit Spitzenrand, bestickt mit dem Buchstaben B . Andras hob es auf, und ein gefaltetes Zettelchen kam zum Vorschein, der Rest einer Straßenbahnkarte, auf der mit Bleistift etwas geschrieben stand: K kann euch vielleicht helfen . Dazu eine Adresse in Angyalföld unweit der Endstation einer Straßenbahnlinie.
    »Guck mal hier«, sagte Andras und reichte seinem Bruder den Fahrkartenschnipsel.
    Brillenlos spähte Tibor auf die winzige Handschrift der Frau. »K kann euch vielleicht helfen«, las er. »Wer ist K?«
    Sie fuhren hinaus aus der Stadt, vorbei an den Wohnblöcken von Pest, hinaus in einen Industrievorort, wo Textilfabriken und Maschinenwerke grauen Qualm in die Schäfchenwolken schickten. Militärlaster mit Versorgungsgütern polterten über die Straßen, die Ladeflächen bepackt mit Stahlrohren und Trägern, Kanalrohren, Hohlblocksteinen und gewaltigen Eisenstangen, die den Rippen eines Leviathan glichen. An der Endstation stiegen sie aus der Straßenbahn und gingen zu Fuß weiter, vorbei an einem alten Irrenhaus und einer Wollwäscherei, vorbei an drei Blöcken zerfallender Mietskasernen bis zu einer kleinen Seitenstraße namens Frangepán köz, wo mehrere Landhäuschen aus der Zeit überlebt hatten, als Angyalföld noch aus Weideland und Weinbergen bestand; hinter den Häusern drangen das Gemecker und der Moschusgeruch von Ziegen hervor. Nummer 18 war ein Bauernhaus aus gekalkten Steinen und Holz, hatte ein steiles Dach mit Holzschindeln und abblätternde Fensterläden. Auch die Fensterrahmen schälten sich, die Tür war abgestoßen und hatte einen abgenagten Rand. Winterliche Efeureste zeichneten eine unlesbare Landkarte auf die Fassade. Als Andras und Tibor durch den Garten gingen, öffnete sich ein hohes Tor an der Seite des Hauses, und heraus kam ein kleiner grüner Karren, der von zwei kräftigen weißen Hammeln mit gewundenen Hörnern gezogen wurde. Er war bepackt mit Milchdosen und Lattenkisten voller Käse. Im Tor stand eine kleine Frau mit einer Haselnussrute in der Hand. Sie trug einen bestickten Rock und Bauernstiefel, und ihre tief liegenden Augen waren so glänzend und hart wie polierte Steine. Sie warf Andras einen derart durchdringenden Blick zu, als wollte sie sich in seinen Kopf bohren.
    »Wohnt hier jemand mit dem Anfangsbuchstaben K?«, fragte er.
    »Mit dem Anfangsbuchstaben K?« Sie musste um die achtzig sein, aber hielt sich kerzengerade, trotz des Windes. »Warum wollen Sie das wissen?«
    Andras schielte auf den Fahrkartenschnipsel, auf dem die Dame im Café die Adresse notiert hatte. »Dies ist doch Frangepán köz 18, oder?«
    »Was wollen Sie von K?«
    »Eine Freundin hat uns hergeschickt.«
    »Was für eine Freundin?«
    »Eine Dame mit zwei kleinen Mädchen.«
    »Ihr seid Juden«, sagte die alte

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