Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
so ist, solltest du gehorchen.«
Wieder dieses Lächeln – eine blasse, konservierte Version von Tibors ehemaligem Lächeln, wie ein in einem Museumsglas aufbewahrtes Fundstück. Als die Torte serviert wurde, trennte er mit der Gabel ein Stück ab und ließ es am Tellerrand liegen.
»Inzwischen hast du wohl vom Délvidék gehört«, sagte Tibor.
Andras rührte seinen Kaffee um und nahm den Löffel heraus. »Ich habe einen Artikel gelesen und furchtbare Gerüchte gehört.«
Tibor nickte kaum merklich. »Ich war dabei«, sagte er.
Andras hob den Blick zu seinem Bruder. Es war beunruhigend, Tibor ohne die Brille zu sehen, die seine ungewöhnlich großen Augen sonst auf die Proportionen seines übrigen Gesichts hinunterbrach. Ohne Brille wirkte er wund und verletzlich. Die Kost aus Kohlsuppe, braunem Brot und Kaffee hatte ihn auf diesen wesentlichen Zustand reduziert; er war die Essenz von Tibor, die Konzentration von Tibor, die notwendige Zutat, die, vereint mit dem normalen Leben, wieder den Tibor hervorbringen konnte, den Andras kannte. Er wusste nicht genau, ob er hören wollte, was Tibor im Délvidék widerfahren war. Lieber beugte er sich über den Kaffee, als in diese Augen zu sehen.
»Ich war vor anderthalb Monaten da«, begann Tibor und erzählte die Geschichte. Es sei Ende Januar gewesen. Seine Munkaszolgálat-Kompanie war dem fünften Armeekorps zugewiesen worden; sie hätten für eine Infanteriekompanie in Szeged geschuftet, Pontonbrücken über die Theiß gebaut, damit die Kompanie ihr Material über den Fluss transportieren konnte. Eines Morgens hätte der Feldwebel sie von der Arbeit wegzitiert und ihnen mitgeteilt, man brauche sie für ein Grabenbauprojekt. Sie wurden in eine Stadt namens Mošorin gefahren, mussten zu einem Feld marschieren und einen Graben ausheben. »Ich weiß noch die Maße«, sagte Tibor. »Zwanzig Meter lang, zweieinhalb Meter breit, zwei Meter tief. Bis zum Abend mussten wir fertig sein.«
Am Tisch neben ihnen saß eine junge Frau mit zwei kleinen Mädchen. Sie warf Tibor einen langen Blick zu und schaute dann zur Seite. Er strich über die Schnörkelverzierung an seiner Gabel und fuhr mit gesenkter Stimme fort.
»Wir hoben den Graben aus«, erklärte er. »Wir dachten, es sei ein Schützengraben. Aber er war nicht für Soldaten gedacht. Nach Einbruch der Dunkelheit ließen sie eine Menschengruppe zum Feld marschieren. Männer und Frauen. Insgesamt einhundertdreiundzwanzig. Wir saßen auf der anderen Seite des Grabens und aßen unsere Suppe.«
Die junge Frau hatte sich auf ihrem Stuhl leicht gedreht. Sie war ungefähr dreißig Jahre alt; jetzt konnten die Brüder sehen, dass sie einen silbernen Davidsstern an einer schmalen Kette um den Hals trug. Sie betrachtete ihre Töchter, die sich eine Tasse Schokolade teilten und die letzten Krümel eines Stücks Mohnstrudel aufpickten.
Als Tibor weitersprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Kinder waren auch dabei«, sagte er. »Jugendliche. Einige können nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen sein.«
»Zsuzsi, Anni«, sagte die Frau. »Sucht doch ein paar Küchlein aus, die wir eurer Großmutter mitbringen können!«
»Die Schokolade ist noch nicht leer«, sagte das kleinere Mädchen.
»Tibor«, sagte Andras und legte seinem Bruder die Hand auf den Arm. »Erzähl es mir später.«
»Nein«, sagte die Frau leise und sah Andras in die Augen. »Das ist in Ordnung.« Zu den Mädchen sagte sie: »Na los, ich komme gleich zu euch.« Das ältere Mädchen zog seinen Mantel über und half dem kleineren, richtig herum in die Ärmel zu schlüpfen. Dann gingen sie zur Kuchentheke und bestaunten die Auswahl, die Finger gegen die Scheibe gepresst. Die Frau faltete die Hände im Schoß und schaute in ihre leere Teetasse.
»Die Menschen mussten sich entlang dem Graben aufstellen«, fuhr Tibor fort. »Ungarn. Alles Juden. Sie mussten sich nackt ausziehen und eine halbe Stunde in der eisigen Kälte stehen. Dann wurden sie erschossen«, sagte er. »Auch die Kinder. Und wir mussten sie begraben. Einige waren noch nicht tot. Die Soldaten richteten ihre Gewehre auf uns.«
Andras schielte zu der Frau neben ihnen hinüber. Sie hatte die Hand auf den Mund gelegt. An der Kuchentheke hinter ihr stritten sich ihre beiden Töchter über die Vorzüge des jeweiligen Gebäcks.
»Was hält sie davon ab, das auch mit uns zu machen?«, fragte Tibor. »Wir sind hier nicht sicher. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe dich«,
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