Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Siebenhundertneunundsechzig Leben – ein Schiff voll jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Eine Explosion in tiefer Nacht – wie das geklungen haben musste, wie es sich in einer Koje tief unten im Schiff angefühlt haben musste: die Erschütterung und das Beben, die plötzliche Panik. Und dann das Einströmen des dunklen Wassers.
»Aber was ist mit Magdolna Bruners Bruder?«, fragte Tibor. »Wie haben Sie den rausbekommen?«
»Damals war es noch anders«, erwiderte Klein. »Ich habe Menschen über die Donau herausgeschafft. Sie auf Frachtschiffen und Flussdampfern geschmuggelt. Wir hatten Kontaktpersonen in Palästina. Wir hatten Unterstützung vom hiesigen Palästina-Amt. Ich habe viele Leute rausgebracht, insgesamt einhundertachtundsechzig. Wenn ich schlau wäre, wäre ich auch gegangen. Aber meine Großeltern sind ganz allein. Sie würden so eine Strapaze nicht überstehen, und ich kann sie nicht allein lassen. Ich dachte, ich wäre hier von größerem Nutzen. Aber ich tue es nicht mehr, also könnt ihr ebenso gut nach Hause gehen.«
»Aber das mit der Struma , das ist eine Katastrophe für Palästina«, warf Andras ein. »Jetzt müssen die Einreisebedingungen gelockert werden.«
»Ich weiß nicht, wie es weitergeht«, sagte Klein. »Die Briten haben jetzt einen neuen Kolonialminister, einen Mann namens Cranborne. Angeblich ist er liberaler gesinnt. Aber ich weiß nicht, ob er das Außenministerium überzeugen kann, die Quoten zu erhöhen. Selbst wenn er das könnte – es ist jetzt viel zu gefährlich.«
»Wenn es eine Geldfrage ist – das bekommen wir schon hin«, sagte Tibor.
Andras warf seinem Bruder einen strengen Blick zu. Wie glaubte Tibor, an Geld kommen zu können? Doch Tibor schaute ihn nicht an. Er richtete den Blick auf Klein, der sich mit den Händen durchs elektrisierte Haar fuhr und sich zu ihnen vorbeugte.
»Es geht nicht ums Geld«, sagte Klein. »Es wäre einfach nur wahnsinnig, es zu versuchen.«
»Unter Umständen könnte es wahnsinniger sein, hierzubleiben«, bemerkte Tibor.
»Budapest ist immer noch einer der sichersten Orte für Juden in Europa«, sagte Klein.
»Budapest lebt im Schatten Berlins.«
Klein schob seinen Stuhl zurück, stand auf und lief sein Fußbodenquadrat ab. »Das Schlimme ist: Ich weiß, dass Sie recht haben. Es ist Wahnsinn, sich hier sicher zu fühlen. Wenn Sie beim Arbeitsdienst waren, dann wissen Sie das selbst gut genug. Aber ich kann nicht die Verantwortung für das Leben von zwei jungen Männern übernehmen. Nicht jetzt.«
»Es geht nicht nur um uns«, sagte Tibor. »Auch um unsere Frauen. Und zwei Säuglinge. Und um unseren jüngeren Bruder, wenn er aus der Ukraine zurückkommt. Und um unsere Eltern in Debrecen. Wir müssen alle raus.«
»Sie sind verrückt!«, rief Klein. »Absolut verrückt. Ich kann keine Säuglinge die Donau hinunterschmuggeln, während ringsum der Krieg tobt. Ich kann nicht die Verantwortung für ältere Menschen übernehmen. Vielleicht sehen wir uns in glücklicheren Zeiten wieder und trinken eine Runde zusammen.« Klein ging zur Tür und öffnete sie.
Tibor rührte sich nicht. Sein Blick flog über die Papierstapel, die Schreibmaschinen, das Rundfunkgerät, die unter Akten erstickenden Möbel, als würden sie ihm eine andere Antwort geben. Doch schließlich sprach Andras.
»Shalhevet Rosen«, sagte er. »Haben Sie den Namen schon mal gehört?«
»Nein.«
»Sie lebt in Palästina, hilft von dort Juden aus Europa heraus. Sie ist mit einem Schulfreund von mir verheiratet.«
»Tja, vielleicht kann sie euch ja helfen. Ich wünsche euch viel Glück.«
»Vielleicht hatten Sie schon Briefkontakt mit ihr.«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Vielleicht kann sie uns helfen, Visa zu bekommen.«
»Ein Visum bedeutet gar nichts«, sagte Klein. »Ihr müsst erst mal hier rauskommen.«
Tibor sah sich wieder im Zimmer um. Durchdringend schaute er Klein an. »Das hier ist Ihre Arbeit«, sagte er. »Wollen Sie jetzt behaupten, Sie hören damit auf?«
»Ich schicke keine Menschen auf die nächste Struma «, erwiderte Klein. »Das können Sie bestimmt verstehen. Und ich muss an meine Großeltern denken. Wenn ich erwischt werde und ins Gefängnis wandere, sind sie ganz allein.«
Tibor blieb in der Tür stehen, den Hut in den Händen. »Sie werden Ihre Meinung ändern«, sagte er.
»Hoffentlich nicht.«
»Dürfen wir Ihnen wenigstens unsere Adresse hinterlassen?«
»Ich habe doch schon gesagt, es nützt nichts. Auf Wiedersehen, meine
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