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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Frau; es war eine Feststellung, keine Frage. Und als sie es aussprach, änderte sich etwas in ihrem Gesicht, die Falten um ihre Augen wurden weicher, ihre Schultern entspannten sich kaum merklich.
    »Das stimmt«, sagte Andras. »Wir sind Juden.«
    »Und Brüder. Er ist der ältere.« Sie wies mit der Haselnussrute auf Tibor.
    Beide nickten.
    Die Alte ließ den Stock sinken und musterte Tibor, als wolle sie unter seine Haut schauen. »Sie sind gerade vom Munkaszolgálat zurück«, sagte sie.
    »Ja.«
    Sie griff in einen Korb und holte einen runden, in Papier geschlagenen Käse heraus, den sie Tibor in die Hand drückte. Als er protestierte, schenkte sie ihm noch einen.
    »K ist mein Enkel«, sagte sie. »Miklós Klein. Er ist ein guter Junge, aber er kann nicht zaubern. Ich kann nicht versprechen, dass er euch helfen kann. Aber sprecht mit ihm, wenn ihr wollt. Geht zur Tür. Mein Mann lässt euch herein.« Sie schloss und verriegelte das Gartentor hinter sich; dann berührte sie die Hammel mit dem Haselstock auf dem Rücken, und die Tiere schüttelten ihre weißen Köpfe und zogen den Karren auf die Straße.
    Kaum war sie fort, drängte eine Gruppe von Ziegen ans Tor und meckerte Andras und Tibor an. Sie schienen irgendein Geschenk zu erwarten. Andras zeigte ihnen seine leeren Taschen, aber sie wollten nicht zurückweichen. Sie stießen mit den Köpfen gegen Andras’ und Tibors Hände. Die Zicklein wollten an ihren Schuhen schnuppern. Am hinteren Ende des Hofes war ein Stall, der zu einem Ziegenhaus umgebaut worden war, windgeschützt und mit frischem Heu versorgt. Vier Ziegen mit glänzendem, dichtem Fell standen an einem Blechtrog und fraßen.
    »Kein schlechter Ort, um Ziege zu sein«, bemerkte Andras. »Selbst mitten im Winter.«
    »Ein besserer Ort für Ziegen als für Menschen«, sagte Tibor mit Blick auf die Fabrikschornsteine in der Nähe.
    Doch Andras fand, er hätte nichts dagegen, eines Tages weiter vom Stadtzentrum entfernt zu wohnen. Nicht unbedingt im Schatten einer Textilfabrik, aber vielleicht an einem Ort, wo sie ein Haus und einen Garten hätten, der groß genug für Ziegen und Hühner und ein paar Obstbäume wäre. Am liebsten wäre er mit seinem Notizblock und einem Winkelmesser zurückgekommen, um den Grundriss des Häuschens zu vermessen. Es war das erste Mal seit Monaten, dass er den Wunsch verspürte, eine architektonische Zeichnung zu erstellen. Als er seinem Bruder den Weg hinauf folgte, hatte er eine sonderbare Empfindung in der Brust, ein Gefühl der Ausdehnung, als sei seine Lunge mit Hefe gefüllt.
    Als Tibor an die Tür klopfte, schwebte eine gelbe Wolke wie Pollen nieder. Sie hörten schlurfende Schritte von innen; die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf ein winziges, vertrocknetes Männlein mit zwei emporgeschwungenen Flügeln grauer Haare. Der Alte trug ein weißes Unterhemd und einen Morgenmantel aus verblichener dunkelroter Schurwolle. Hinter ihm ertönte eine kratzende Melodie von Bartók, es roch nach Pfannkuchen.
    »Herr Klein?«, fragte Tibor.
    »Der bin ich.«
    »Wohnt hier Miklós Klein?«
    »Wer will das wissen?«
    »Tibor und Andras Lévi. Man hat uns gesagt, wir sollten ihn besuchen. Ihre Frau sagte, er sei zu Hause.«
    Das Männlein öffnete die Tür und winkte sie in einen kleinen hellen Raum mit rot gestrichenem Betonboden. Auf einem Tisch am Fenster lagen die Reste vom Frühstück neben einer steifen, gefalteten Zeitung. »Wartet hier«, sagte der ältere Klein. Er ging ans Ende eines kurzen Flurs, der mit Fotografien von Männern und Frauen in antiquiert wirkender Kleidung geschmückt war: die Männer in Militäruniform, die Frauen in eng geschnürten Kleidern aus dem vergangenen Jahrhundert. Am Ende des Flurs öffnete und schloss sich eine Tür. An der Wand schlug eine Kuckucksuhr zur vollen Stunde, der Kuckuck rief elfmal. Eine Sammlung von Fotografien auf einem Beistelltisch zeigte einen strahlenden Jungen von sechs oder sieben Jahren, der die Hände einer wunderschönen dunkelhaarigen jungen Frau und eines melancholischen, intelligent wirkenden Mannes hielt; es gab Aufnahmen der drei am Strand, auf Fahrrädern, im Park, auf den Stufen einer Synagoge. Die Sammlung wirkte wie ein Schrein oder ein Mahnmal.
    Nach wenigen Minuten ging die Tür am Ende des Flurs auf, der ältere Klein kam zurückgeschlurft und winkte sie mit einer Hand näher. »Bitte«, sagte er. »Hier entlang.«
    Andras folgte seinem Bruder den Flur hinunter, vorbei an den Bildern der

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