Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Baby lag an Klaras Brust, und seine Hände griffen ihr immer wieder aufs Neue ins Haar.
»Was meinst du?«, fragte sie leise. »Denkst du, wir sollten versuchen auszuwandern?«
»Es klingt wahnsinnig, oder? Aber ich habe nicht das gesehen, was Tibor miterlebt hat.«
»Was ist mit deinen Eltern? Und mit meiner Mutter?«
»Ich weiß«, sagte Andras. »Es ist schrecklich, wenn ich an sie denke. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wenn wir warten, wird es vielleicht besser. Aber ich könnte Shalhevet trotzdem schreiben. Nur für den Fall, dass sie irgendwas für uns tun kann.«
»Du kannst ihr schreiben«, sagte Klara. »Aber wenn sie irgendetwas tun könnte, hätte sie uns dann nicht schon längst Bescheid gesagt?« Der Säugling drehte den Kopf und ließ Klaras Haare los. Sie legte ihn auf der anderen Seite an und zog die Decke höher.
»Vom Arbeitsdienst aus habe ich Rosen geschrieben«, sagte Andras. »Er wusste, dass ich damals nicht fortkonnte, selbst wenn ich gewollt hätte.«
»Und jetzt haben wir den Kleinen«, sagte Klara.
Andras versuchte sich vorzustellen, wie Klara ihren gemeinsamen Sohn unter dem Schutz einer Persenning im Laderaum eines Donauschiffes stillte. Gab es Menschen, die mit Kleinkindern auf die Flucht gingen, fragte er sich. Betäubten sie ihre Kinder mit Laudanum und beteten, dass sie nicht weinten? Das Baby riss die Decke von Klaras Brust, sie zog sie wieder hoch.
»Das musst du nicht tun«, sagte Andras. »Ich möchte dich sehen.«
Klara lächelte. »Wahrscheinlich habe ich es mir bei meiner Mutter angewöhnt. Elza kann den Anblick nicht ertragen. Sie findet es unhygienisch. Sie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich den Kleinen in deiner Gegenwart stille.«
»Es ist doch völlig natürlich. Und schau dir ihn an. Sieht er nicht glücklich aus?«
Ihr Sohn krümmte und reckte die Zehen. Er winkte mit einer dunklen Strähne von Klaras Haar in der Faust. Seine Augen suchten ihre, und er blinzelte, dann blinzelte er noch einmal, langsamer, und seine Augenlider fielen zu. Berauscht von der Milch, ließ er Klaras Haar los, seine Beinchen sackten auf ihren Arm. Die Hände öffneten sich zu kleinen Seesternen. Sein Mund löste sich von ihrer Brust.
Klara schaute zu Andras auf und hielt seinen Blick. »Was wäre, wenn nur ihr gehen würdet?«, fragte sie. »Nur du und Tibor? Wenn ihr dort sicher ankommt und uns so bald wie möglich nachholen würdet? Wenigstens müsstest du dann nicht noch einmal zum Munkaszolgálat.«
»Niemals«, erwiderte Andras. »Ich würde lieber sterben, als ohne euch beide gehen.«
»Das klingt aber ganz schön dramatisch, mein Schatz.«
»Dramatisch oder nicht, das ist mir egal. So empfinde ich eben.«
»Hier, nimm deinen kleinen Sohn. Mein Bein ist eingeschlafen.« Klara hob das Kind hoch und reichte es Andras, dann knöpfte sie ihre Bluse zu. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand sie auf und humpelte durch den Raum. »Schreib Shalhevet«, wiederholte sie. »Nur mal so. Dann wissen wir wenigstens, ob wir eine andere Vorgehensweise in Betracht ziehen können. Ansonsten bleibt das alles Spekulation.«
»Ohne dich gehe ich nirgendwohin.«
»Hoffentlich nicht«, gab sie zurück. »Aber momentan ist wohl der falsche Zeitpunkt für weitreichende Vorsätze.«
»Willst du mir nicht die Illusion lassen, dass ich eine Wahl habe?«
»Es ist auch der falsche für Illusionen«, sagte Klara, setzte sich neben Andras aufs Sofa und legte den Kopf an seine Schulter. Während sie dort saßen und ihrem Sohn beim Schlafen zusahen, verspürte Andras erneut ein stechendes Schuldgefühl: In Wahrheit ließ er sie in einer Illusion leben – in der Illusion, in Sicherheit zu sein, die Vergangenheit endgültig hinter sich gelassen zu haben, sich nicht vorwerfen zu müssen, die eigene Familie durch ihre Rückkehr nach Ungarn in Gefahr gebracht zu haben.
Die Illusion hielt noch das Frühjahr über an. Durch eine Umstrukturierung im Justizministerium kam der Erpressungsmechanismus ins Stocken, und die Notwendigkeit, das Haus auf der Benczúr utca zu verkaufen, trat zeitweilig in den Hintergrund. Andras arbeitete weiter als Grafiker und Illustrator, Mendel verfasste Artikel in der Nachrichtenredaktion nebenan. Wenn es anfangs surreal schien, nun als rechtmäßige Tätigkeit das zu tun, was bis vor wenigen Monaten noch eine heimliche, streng genommen sogar verbotene Beschäftigung gewesen war, so ging dieses Gefühl bald in den regelmäßigen Abläufen und dem
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