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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Herren. Farewell. Adieu.« Er schob sie in den schwach beleuchteten Flur, zog sich wieder in sein Zimmer zurück und verriegelte die Tür hinter sich.
    Im großen Zimmer sahen Andras und Tibor, dass das Frühstück vom Tisch geräumt worden war und der ältere Klein sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, die Zeitung in der Hand. Als er merkte, dass die beiden vor ihm standen, ließ er die Zeitung sinken und fragte: »Und?«
    »Also, wir gehen jetzt«, sagte Tibor. »Richten Sie Ihrer Frau bitte aus, dass wir ihre Freundlichkeit zu schätzen wissen.« Er hielt einen papierumwickelten Ziegenkäse hoch.
    »Einer von ihren besten«, sagte der alte Klein. »Sie muss Sie ganz besonders ins Herz geschlossen haben. Die verschenkt sie nicht einfach so.«
    »Sie hat mir zwei gegeben«, sagte Tibor grinsend.
    »Oh! Jetzt machen Sie mich aber eifersüchtig.«
    »Vielleicht kann Ihre Frau ja auf Ihren Enkel einwirken, damit er uns hilft. Er hat uns leider fortgeschickt, ohne uns große Hoffnung zu machen.«
    »Miklós ist ein launischer Kerl«, sagte der alte Klein. »Seine Arbeit ist kompliziert. Er ändert täglich seine Meinung. Weiß er, wie er Sie erreichen kann?«
    Tibor holte einen kleinen stumpfen Stift aus der Brusttasche und bat Kleins Großvater um einen Zettel. Er entschuldigte sich, keine Visitenkarte zu besitzen. Dann notierte er seine Adresse auf dem Fetzen und ließ ihn auf dem Tisch liegen.
    »Da ist sie«, sagte er. »Falls er seine Meinung doch noch ändert.«
    Kleins Großvater gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Die erhobenen Stimmen der Ziegen im Hof setzten einen pessimistischen Kontrapunkt. Der Wind schlug die Fensterläden klappernd gegen das Haus, ein Geräusch, das aus Andras’ tiefster Kindheit stammte. Er hatte das Gefühl, aus der Zeit herausgetreten zu sein, als würden Tibor und er, wenn sie über die Schwelle dieses Hauses nach draußen gingen, in ein völlig anderes Budapest eintauchen, eines, in dem die Autos durch Fuhrwerke ersetzt waren, die elektrischen Straßenlaternen durch Gaslampen, die knielangen Röcke der Frauen durch knöchellange, in dem es keine U-Bahn gab und keine Kriegsnachrichten in der Pesti Napló . In dem das zwanzigste Jahrhundert aus dem Gewebe der Zeit herausgeschnitten war, ein Akt göttlicher Chirurgie.
    Doch als sie die Außentür öffneten, war noch alles da: die über die breite Querstraße am Ende des Blocks donnernden Laster, die hoch aufragenden Schornsteine der Textilfabrik, die Kinowerbung an Bauzäunen aus Sperrholz. Andras und sein Bruder gingen schweigend zurück zur Straßenbahnhaltestelle und nahmen eine fast leere Bahn ins Stadtzentrum. Die Tram trug sie über die Kárpát utca mit ihren Reparaturwerkstätten, dann über die Brücke hinter dem Nyugati-Bahnhof und schließlich zur Andrássy út, wo sie ausstiegen und nach Hause gingen. Doch als sie die Ecke zur Hársfa utca erreichten, bog Tibor ab. Mit den Händen in den Taschen ging er den Block hinunter bis zu dem grauen Gebäude, wo sie vor Andras’ Abreise nach Paris gewohnt hatten. Im zweiten Stock waren ihre Fenster, jetzt dunkel und ohne Vorhänge. Auf dem Balkon standen mehrere zerbrochene Blumentöpfe; ein leeres Vogelhaus hing am Geländer. Tibor schaute hinauf zum Balkon, der Wind schlug seinen Kragen hoch.
    »Kannst du es mir verdenken?«, fragte er. »Verstehst du, warum ich wegwill?«
    »Ich verstehe es«, sagte Andras.
    »Denk darüber nach, was ich dir im Café erzählt habe. Das ist hier in Ungarn passiert. Jetzt stell dir vor, was in Deutschland und Polen vor sich gehen muss. Du würdest nicht glauben, was ich alles gehört habe. Man lässt die Menschen zu Tode hungern und pfercht sie in Ghettos ein. Zu Tausenden werden sie erschossen. Horthy kann das nicht für alle Zeit aufhalten. Und die Alliierten kümmern sich nicht um die Juden, nicht genug, als dass es vor Ort etwas ändern würde. Wir müssen es selbst in die Hand nehmen.«
    »Aber wozu, wenn wir dabei sterben?«
    »Wenn wir Visa haben, besitzen wir einen gewissen Schutz. Schreib an Shalhevet. Frag sie, ob ihre Organisation uns irgendwie helfen kann.«
    »Das dauert bestimmt lange. Vielleicht Monate, allein die Briefe.«
    »Dann fang besser sofort damit an«, gab Tibor zurück.

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    32.
Verladebahnhof Szentendre
    AM NACHMITTAG ERZÄHLTE ER KLARA von dem Bauernhaus auf der Frangepán köz und von Klein, der in einem Zimmer voller Aktenordner von Tausenden potenziellen Emigranten saß. Sie waren im Wohnzimmer, das

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