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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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marschierte forsch über das Pflaster, angeführt von einer Matrone mit Feder im Hut.
    »Ist nicht mehr weit«, sagte Vago. Er führte Andras den Boulevard hinunter und bog in eine kleinere Geschäftsstraße ab, dann in eine lange Wohnstraße, schließlich in eine kleinere, gesäumt von grauen Doppelhäusern und massiven rotbedachten Wohnhäusern, die plötzlich einem hoch aufragenden weißen Schiff von Mietshaus wichen, dreieckig, gebaut auf einer Scherbe Land, an der sich zwei Straßen in spitzem Winkel trafen. Die einzelnen Wohnungen hatten Bullaugenfenster und zurückgesetzte Balkone mit Glasschiebetüren, als sei das Gebäude tatsächlich ein Ozeandampfer; hinter einem Bug aus schrägen Fenstern und milchweißen Stahlbetonbögen schob es sich durch den Morgen.
    »Architekt?«, fragte Vago.
    »Pingusson.« Einige Wochen zuvor hatten sie Pingussons Arbeit im Pavillon auf der Weltausstellung studiert; ein Kommilitone aus dem fünften Jahr war ihr Führer gewesen und hatte die Schlichtheit der Linienführung und den unkonventionellen Umgang mit Proportionen gepriesen.
    »Stimmt«, sagte Vago. »Einer von uns – ein Mann von der École Spéciale. Ich habe ihn vor fünf Jahren auf einem Architekturkongress in Russland kennengelernt und bin seitdem mit ihm befreundet. Er hat einige scharfsinnige Artikel für L’architecture d’Aujourd’hui verfasst. Wegen dieser Beiträge haben die Leute die Zeitschrift gekauft, als sie gerade ans Laufen kam. Außerdem ist er ein teuflisch guter Pokerspieler. Wir treffen uns immer samstagabends. Manchmal stattet uns Professor Perret einen Besuch ab – der spielt zwar miserabel, aber er redet gern.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Andras.
    »Und jetzt raten Sie mal, um was sich das Gespräch an diesem Samstagabend drehte?«
    Andras zuckte mit den Schultern.
    »Keine Idee?«
    »Um den Spanischen Bürgerkrieg?«
    »Nein, mein junger Freund. Es ging um Sie! Um Ihr Problem. Das Stipendium. Ihre fehlenden Mittel. Perret schenkte immer fleißig Champagner nach. Einen erstklassigen Canard-Duchêne von ’26, den er als Geschenk von einem Auftraggeber bekommen hatte. Nun ist Georges-Henri – also Pingusson – ein außergewöhnlich intelligenter Mann. Er zeichnet für eine große Zahl sehr schöner Gebäude hier in Paris verantwortlich und hat ein ganzes Haus voller Preise und Pokale. Er ist auch Ingenieur, wissen Sie, nicht nur Architekt. Beim Pokerspielen merkt man, dass er sich mit Zahlen auskennt. Aber wenn er Champagner trinkt, wird er waghalsig und romantisch. Um Mitternacht warf er sein Sparbuch auf den Tisch und sagte zu Perret, wenn der die nächste Runde gewänne, dann würde er – also Pingusson – einspringen und Ihre Studiengebühren übernehmen.«
    Andras starrte Vago ungläubig an. »Und was passierte?«
    »Perret verlor natürlich. Ich glaube nicht, dass er Pingusson schon mal geschlagen hat. Aber der Champagner tat bereits seine Wirkung. Er ist ein gerissener Kerl, unser Perret. Letzten Endes gerissener als Pingusson.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Am Ende standen wir alle auf der Straße und warteten auf ein Taxi. Perret schüttelte den Kopf, nüchtern wie eine Eule. ›Ist wirklich eine Schande mit diesem Lévi‹, sagt er. ›Tragische Sache.‹ Und Georges-Henri, betrunken vom Champagner, sinkt praktisch auf dem Bürgersteig auf die Knie und fleht Perret an, das Stipendium für Sie zahlen zu dürfen. Fünfzig Prozent, sagt er, nicht einen Centime weniger. ›Wenn der Junge die andere Hälfte selbst aufbringt‹, sagt er, ›dann lasst ihn an der Schule bleiben.‹«
    »Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte Andras.
    »Leider doch.«
    »Aber am nächsten Morgen kam er zur Besinnung.«
    »Nein. Perret ließ ihn noch nachts alles schriftlich niederlegen. Er ist ihm eh etwas schuldig. Perret hat ihm mehr als einen Gefallen getan.«
    »Welche Sicherheit will er für das Darlehen?«
    »Keine«, sagte Vago. »Perret hat gesagt, Sie wären ein Ehrenmann. Und dass Sie nach Ihrem Abschluss eine Menge Geld verdienen würden.«
    »Fünfzig Prozent«, sagte Andras. »Gütiger Gott. Von Pingusson.« Wieder schaute er hinauf zur geschwungenen Fassade des Gebäudes, zu diesem aufstrebenden weißen Bug. »Sagen Sie mir, dass es kein Scherz ist.«
    »Das ist kein Scherz. Der Brief liegt unterschrieben auf meinem Schreibtisch.«
    »Aber das sind Tausende von Francs.«
    »Perret hat ihn davon überzeugt, dass Sie die Unterstützung wert sind.«
    Andras’ Kehle zog sich zu. Er

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