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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Villareal-Bloch, die titelgebende Mutter, litt an einer akuten Überanspruchung der Stimmbänder, die man stillschweigend ihrer neusten Affäre mit einem brasilianischen Presseattaché zuschrieb. Unter diesen ein wenig peinlichen Umständen war Madame Villareal-Blochs Zweitbesetzung im letzten Moment gebeten worden, die Rolle zu übernehmen. Marcelle Gérard schritt fuchsteufelswild in ihrer Garderobe auf und ab und schäumte, wie Claudine Villareal-Bloch es wagen konnte, sie mit dieser Finte zu überfallen; es schien ihr eine beabsichtigte Demütigung. Madame Villareal-Bloch wusste genau, dass Madame Gérard, verärgert über die Zweitbesetzung, sich nicht vorbereitet hatte. Noch bei der Probe am Morgen hatte sie ihren Text vergessen und völlig unprofessionell herumgestammelt. In seinem Büro weiter unten im Gang trank Zoltán Novak puren Scotch und fragte sich, wie es weitergehen solle, wenn sie mit dem Stück nicht vorankämen, wenn Marcelle Gérard auf der Bühne erstarrte, so wie sie es am Morgen bei der Probe getan hatte. Ein wichtiger Minister hatte sich für die Vorstellung am folgenden Abend angesagt; so beliebt war das neue Stück von Brecht geworden, so fatal die gegenwärtige Lage. Wenn es am nächsten Abend zu einer öffentlichen Panne käme, würde Novak, dem Ungar, die Schuld daran gegeben werden. Franzosen versagten nicht.
    Zoltán Novak sehnte sich verzweifelt nach einer Zigarette. Aber er konnte nicht rauchen. Als er am Vorabend von Madame Villareal-Blochs Krankheit erfuhr, hatte seine Frau seine Zigaretten versteckt, denn sie wusste, dass er zum Übertreiben neigte; er hatte ihr versprechen müssen, dass er sich keine neuen kaufen würde, und sie hatte geschworen, seine Kleidung nach Rauch abzuschnüffeln. Während er in seinem Büro nikotinunterversorgt und nervös auf und ab lief, kam der Produktionsassistent mit einer Liste dringender Nachrichten herein. Dem Requisiteur fehlten die Schaufeln der Arbeiter in der dritten Szene; sollten sie ohne Schaufeln spielen oder neue kaufen? Madame Gérards Name sei im Programm für den folgenden Abend falsch geschrieben (Guerard, ein waschechter Fehler), sollte das Ganze neu gedruckt werden? Außerdem sei unten ein junger Mann, der Arbeit suche. Er behaupte, Monsieur zu kennen, zumindest habe es sich so angehört – er spreche nicht gut Französisch. Wie hieße er noch gleich. Irgendein ausländischer Name. Lévi. Ondresch.
    Kauft neue Schaufeln für die Arbeiter. Lasst das Programm so, wie es ist – ein Neudruck ist zu teuer. Und nein, er kenne keinen Lévi Ondresch. Und selbst wenn, Gott stehe ihm bei, so sei Arbeit das Letzte, was er im Moment habe.
    Andras hatte vorgehabt, am Montagmorgen mit einer triumphierenden Nachricht für Professor Vago zur Schule zu kommen: Er hätte Arbeit gefunden, würde die Kosten seines Studiums tragen und an der Hochschule bleiben können. Stattdessen trottete er nun frustriert durch das Laub des Boulevard Raspail. Das ganze Wochenende lang hatte er das Quartier Latin auf der Suche nach Arbeit durchkämmt; hatte an Vorder- und Hintertüren geklopft, an Bäckereien und Werkstätten; er hatte es sogar gewagt, ein Grafikbüro zu betreten, wo ein junger Mann in Hemdsärmeln an einem Zeichentisch saß und arbeitete. Der Jüngling betrachtete Andras mit nachdenklicher Verachtung und sagte, er könne wieder vorbeischauen, wenn er seinen Abschluss in der Tasche habe. Andras war durch den Regen weitergezogen, verfroren und hungrig, aber hatte nicht einfach aufgeben wollen. Im Nebel hatte er die Seine überquert und sich das Hirn zermartert, an wen er sich um Hilfe wenden könne; als er aufschaute, merkte er, dass er bis zur Place du Châtelet gelaufen war. Ihm kam der Gedanke, sich beim Théâtre Sarah-Bernhardt vorzustellen und nach Zoltán Novak zu fragen, der ihn ja schließlich aufgefordert hatte, ihn zu besuchen. Er könnte direkt hineingehen; es war halb acht, und Novak mochte schon vor der Vorstellung im Theater sein. Doch am Sarah-Bernhardt war er von einem jungen Mann fortgeschickt worden – höflich, voller Bedauern, in einem Schwall mitleidigem Französisch –, der behauptete, er habe mit Novak gesprochen, aber der habe Andras’ Namen nicht gekannt. Auch den Rest des Abends und den nächsten Tag hatte Andras mit der Stellensuche verbracht – ohne Erfolg. Irgendwann hatte er wieder zu Hause gesessen, an seinem Tisch vor dem Fenster, vor sich ein Telegramm von Tibor.
    UNGLAUBLICHE NACHRICHT! EWIGER DANK DIR & VAGO!

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