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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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BEANTRAGE MORGEN STUDENTENVISUM. MODENA. HURRA! T.
    Andras hätte alles gegeben, um Tibor zu sehen, um ihm zu erzählen, was geschehen war, und um zu hören, was er Tibors Meinung nach tun sollte. Aber Tibor war zwölfhundert Kilometer entfernt in Budapest. Es war nicht möglich, Ratschläge dieser Art per Telegramm zu erbitten oder zu erteilen, und ein Brief würde viel zu lange dauern. Am Wochenende hatte Andras natürlich Rosen, Polaner und Ben Yakov in der Studentenkantine von den jüngsten Entwicklungen erzählt; ihre Empörung war wohltuend gewesen, ihr Mitleid ermutigend, aber es gab nicht viel, das sie für ihn tun konnten. Sie waren ja nicht seine Brüder; anders als Tibor konnten sie nicht ahnen, was ihm das Stipendium bedeutete hatte.
    Um sieben Uhr morgens war die École Spéciale noch verlassen. Die Ateliers waren leer, niemand war auf dem Hof, das Amphitheater ein hallender Raum. Andras wusste, dass er ein paar Studenten schlafend an ihren Schreibtischen finden würde, Kommilitonen, die sich die ganze Nacht mit Kaffee und Zigaretten wach gehalten hatten, um an Zeichnungen oder Modellen zu arbeiten. Schlaflose Nächte waren gang und gäbe an der École Spéciale. Es gab Gerüchte von Tabletten, die das Denken schärften und einem ermöglichten, tagelang, ja, wochenlang durchzuarbeiten. Es gab Legenden von künstlerischen Durchbrüchen nach zweiundsiebzig durchwachten Stunden. Und es gab Geschichten von katastrophalen Zusammenbrüchen. Ein Arbeitsraum hieß l’atelier de la suicide. Die älteren Studenten erzählten den jüngeren von einem Studenten, der sich erschossen hatte, als sein Rivale den jährlichen Prix du Amphithéâtre erhielt. In jenem Atelier war in der Wand neben der Tafel tatsächlich eine weggesprengte Kerbe im Backstein zu sehen. Als Andras Vago nach dem Selbstmord fragte, erwiderte der, diese Geschichte habe man sich schon erzählt, als er Student war, doch könne sie niemand bestätigen. Immerhin erfülle sie ihren Zweck als mahnendes Beispiel.
    In Vagos Büro brannte Licht; Andras sah das leuchtende Quadrat vom Hof aus. Er hastete die drei Treppen hinauf und klopfte. Nach langer Stille öffnete Vago die Tür; in Strümpfen stand er vor Andras, rieb sich mit tintenverschmierten Daumen und Zeigefinger die Augen. Sein Kragen war geöffnet, sein Haar ein wildes Durcheinander. » Te », sagte er auf Ungarisch. Ein kleines Wort, gewürzt mit einem Korn Zuneigung.
    »Ja«, sagte Andras. »Fürs Erste noch da.«
    Vago bat ihn in sein Büro und bedeutete ihm, sich auf den angestammten Hocker zu setzen. Dann ließ er Andras ein paar Minuten allein, und als er zurückkam, sah er aus, als hätte er sich das Gesicht mit heißem Wasser gewaschen und mit einem kratzigen Handtuch geschrubbt. Er roch nach Bimssteinseife, mit der man gut die Tinte von den Händen bekam.
    »Und?«, sagte Vago und setzte sich hinter den Schreibtisch.
    »Tibor schickt Ihnen seinen tief empfundenen Dank. Er beantragt jetzt das Visum.«
    »Ich habe schon an Professor Turano geschrieben.«
    »Danke«, sagte Andras. »Aufrichtigen Dank.«
    »Und wie geht’s Ihnen?«
    »Nicht besonders gut, wie Sie sich vorstellen können.«
    »Sie machen sich Sorgen, wie Sie die Gebühren bezahlen sollen.«
    »Würden Sie das nicht?«
    Vago schob seinen Stuhl nach hinten, trat ans Fenster und schaute hinaus. Nach einer Weile drehte er sich wieder um und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Hören Sie«, sagte er, »ich habe heute nicht viel Lust, mit Ihnen Französisch zu üben. Wie wäre es stattdessen mit einer Exkursion? Wir haben noch gut anderthalb Stunden bis zum Unterricht.«
    »Sie sind der Professor«, sagte Andras.
    Vago nahm seinen Mantel vom Holzhaken und zog ihn über. Er schob Andras vor sich durch die Tür, folgte ihm die Treppe hinunter und steuerte ihn durch die blauen Eingangstüren der École. Auf dem Boulevard suchte er in seiner Tasche nach Kleingeld und führte Andras die Stufen hinunter zur Métrostation Raspail, wo gerade ein Zug hineinrauschte. Sie fuhren bis Motte-Picquét und stiegen in die 8 um, dann ein zweites Mal bei Michel-Ange Molitor. An einer Andras bislang unbekannten Station namens Billancourt stiegen sie schließlich aus, und Vago leitete ihn hoch auf eine Vorortstraße. Hier draußen war die Luft frischer als im Zentrum; in Erwartung der ersten Kunden spritzten Ladenbesitzer die Bürgersteige ab, Fensterputzer polierten die Glasscheiben. Eine Gruppe von Mädchen in kurzen schwarzen Wollmänteln

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