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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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flatterhaft, die Wurzeln seiner Störungen im Dunkeln verborgen. Aus welchem Grund war er so grausam zu Leutnant Horvath? Weshalb trat er seinen grauen Wolfshund? Wo und wie war er zu dieser Narbe bekommen, die sein Gesicht durchschnitt? Niemand wusste es, nicht einmal die Wachen. Wer Kozmas Zorn einmal auf sich gezogen hatte, wurde ihn nicht mehr los. Bisher war er Männern wie Andras und Mendel vorbehalten gewesen, die in den Genuss gewisser Privilegien kamen. Aber auch jede Art von Schwäche erregte Kozmas Aufmerksamkeit. Ein Mann, der Anzeichen von Ermüdung zeigte, wurde geschlagen oder sogar gefoltert: Er musste mit Wassereimern in den ausgestreckten Händen strammstehen, am Ende des Arbeitstags Freiübungen absolvieren oder draußen im Regen schlafen. Ab Mitte September starben die ersten Männer trotz des noch milden Wetters und der Pflege von Tolnay, dem Kompaniearzt. Einer der älteren Männer zog sich eine Bronchitis zu, die sich zu einer tödlichen Lungenentzündung entwickelte; ein anderer erlag bei der Arbeit einem Herzversagen. Wellen von Ruhr kamen und gingen, nahmen hier und da einen Mann mit sich. Verletzungen blieben oft unbehandelt; der kleinste Schnitt konnte zur Blutvergiftung führen oder mit dem Verlust eines Körpergliedes enden. Tolnay erstattete bei Kozma regelmäßig erschreckende Berichte, doch man musste schon dem Tode nahe sein, damit Kozma einen Kranken zum Munkaszolgálat-Revier ins Dorf schickte.
    Die Nächte im Waisenhaus hielten unvorhersagbare Schrecken bereit. Um zwei Uhr morgens mochte Kozma die Männer wecken und ihnen befehlen, bis zum Morgengrauen in Grundstellung anzutreten. Die Wachen schlugen zu, wenn jemand einschlief oder auf die Knie sackte. Wenn Kozma und Horvath manchmal nachts mit anderen Offizieren in ihrem Quartier tranken, wurden gelegentlich vier Arbeitsdienstler gerufen, um ein grausames Schauspiel aufzuführen: Zwei Männer mussten sich bei ihren Kameraden auf die Schultern setzen und versuchen, einander niederzuringen. Kozma peitschte mit seiner Reitgerte, wenn der Kampf nicht heftig genug ausfiel. Das Spiel endete erst, wenn einer der Männer bewusstlos am Boden lag.
    Doch Kozmas grausamste Foltermethode, die er am häufigsten anwandte, war das Vorenthalten von Essensrationen. Ihm schien es zu gefallen, wenn seine Leute Hunger litten, er genoss das Gefühl, dass er allein ihre Versorgung in der Hand hatte; anscheinend mochte er die Vorstellung, dass die Männer seiner Gnade ausgeliefert waren und alles für das geben würden, was nur er allein gewähren konnte. Wenn Andras und Mendel nicht heimlich zusätzliche Lebensmittel von ihren Vermessungsgängen mitgebracht hätten, wäre die 79/6 buchstäblich verhungert. Schon so waren die jüngeren Männer immer völlig ausgezehrt. Auch die vorgeschriebenen Rationen hätten nicht gereicht, um die bei der Arbeit verlorene Energie wieder aufzunehmen. Die Männer konnten nicht begreifen, wie das die anderen Arbeitskompanien in Turka monatelang ausgehalten hatten; was hielt sie am Leben? Sie begannen, sich zu erkundigen, fragten die Arbeiter entlang der Straße, was man tun musste, um nicht zu hungern. Bald kam die Nachricht zurück, dass es im Dorf einen blühenden Schwarzmarkt gebe, dass dort alle möglichen Lebensmittel erhältlich seien, wenn man etwas zu tauschen habe. Es schien bittere Ironie, dass eine Kompanie, die wegen der Schwarzmarktgeschäfte ihrer Offiziere verschickt worden war, nun gezwungen sein sollte, selbst auf dem Schwarzmarkt einzukaufen, doch tatsächlich gab es keine Alternative.
    Eines Abends sammelten die Männer der 79/6 im Schlafraum einige Wertsachen ein – zwei Uhren, ein paar Geldscheine, ein silbernes Feuerzeug, ein Taschenmesser mit Ebenholzgriff – und hielten eine leise Besprechung ab, um zu entscheiden, wer den Gang ins Dorf auf sich nehmen sollte. Die Gefahren waren wohlbekannt. Wie oft hatte Horvath sie erinnert, dass Arbeitsmänner ohne Begleitung erschossen würden? Elfenbeinturm als Gesprächsleiter begann damit, eine Liste von Bedingungen für die Entscheidung festzulegen: Niemand, der krank war, dürfe gehen, auch niemand, der älter als vierzig oder unter zwanzig sei. Niemand, der in dieser Woche Kozmas grausames Spiel hatte mitmachen müssen, und niemand, der in letzter Zeit auf dem Hof ausgesetzt worden war. Niemand, der zu Hause Kinder hatte. Niemand, der verheiratet war. Die Männer schauten sich um und versuchten herauszufinden, wer übrig war.
    »Ich bin noch nicht

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