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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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etwa bei dir bedanken? Deine dreckigen Hände küssen?«
    »Ist mir egal, was du tust. Von mir aus fahr zur Hölle, Onkel.«
    »Du hattest recht letztens«, sagte Andras. »Du bist nicht gemacht fürs Arbeitslager. Du wirst es nicht überleben, und ich hoffe, es dauert nicht mehr lange.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte József und grinste Andras schief an. »Schließlich bin ich jetzt hier drinnen statt draußen im Wald.«
    Und da tat Andras, was er schon seit Monaten hatte tun wollen: Er holte mit der Faust aus und schlug József mitten ins Gesicht, so heftig, dass er hinfiel. József kniete auf dem Betonboden, hielt sich mit einer Hand den Kiefer und spuckte Blut in den metallenen Abfluss. Andras rieb sich die Fingerknöchel. Er wartete auf die vertraute Reue, die seinen Hass auf József immer milderte, aber sie stellte sich nicht ein. Er verspürte nichts als Hunger und Erschöpfung und den Wunsch, József erneut zu schlagen, genauso heftig wie beim ersten Mal. Mit einiger Überwindung ließ er József in der Latrine liegen und ging ins Bett, um auf die Rückkehr von Mendel zu warten.
    Bis zum Dorf waren es knapp fünf Kilometer durch den dunklen Wald; Andras nahm an, dass die Männer eine Stunde für den Weg bräuchten. Wenn sie im Dorf angekommen waren, müssten sie ihre Kontaktperson finden und das Geschäft aushandeln – nebenbei müssten sie der Nachtpatrouille ausweichen, die sofort ohne Warnung schießen würde. Wenn sie die Kontaktperson fänden und diese bereit war zu handeln, und wenn sie etwas dabeihatte, was zu tauschen sich lohnte, konnte es noch eine weitere Stunde dauern, bis sie zurückkehrten; die beiden mochten erst kurz vor dem Wecksignal wieder da sein. Andras lag wach und stellte sich vor, wie die Männer durch den Wald huschten: Mendels lange Beine, die schnell vorankamen, und Goldfarb, der fast rennen musste, um Schritt zu halten. Es war eine klare Nacht, kalt genug, dass man seinen Atem sehen konnte. Mond und Sterne standen am Himmel; selbst in den Wald fiel ein bisschen Licht. Mendel und Goldfarb würden das Glühen des Dorfes schon aus weiter Ferne sehen, würden ihren Weg durch die Bäume finden, immer auf den bernsteinfarbenen Horizont zu. Mittlerweile mochten sie den halben Weg zurückgelegt haben.
    Da hörte Andras ein wildes Bellen aus dem Wald hinter dem Waisenhaus. Er kannte das Geräusch; sie alle kannten es. Es war Major Kozmas schlecht gelaunter Hund, der graue Wolfshund, den sie hassten und der sie hasste. Schreie drangen aus dem Wald. Die Männer fielen fast aus ihren Betten und stürzten an die Fenster. Der Wald war erfüllt von tastenden Taschenlampenstrahlen, vom Geräusch brechender Äste; von unverständlichen Rufen, die näher kamen und sich in einen Schwall unflätigen Ungarisch verwandelten. Dunkle Schatten wankten zum Licht, kamen kurz in Sicht und verschwanden wieder, bevor man sie erkennen konnte. Männer näherten sich dem Waisenhaus und schoben sich durch das Tor. Fünf Minuten später scheuchte Kozma alle Arbeiter aus dem Schlafsaal und befahl ihnen, im Hof anzutreten.
    Ohne Kopfbedeckung und Mantel stolperten sie nach draußen in die Kälte. Der Mond schien so kräftig, dass die Mitternacht gespenstisch hell wirkte; die Schatten der Männer fielen deutlich umrissen gegen die Backsteinmauer des Hofes. In der nordwestlichen Ecke gab es einen Aufruhr unter den Wachen, Hundeknurren, ein Handgemenge, Schmerzensschreie. Kozma befahl den Männern, strammzustehen und ihn nicht aus den Augen zu lassen. Er stieg auf einen kleinen Klassenzimmerstuhl, damit er alle sehen konnte. Andras und József standen weit vorn. Es war kalt auf dem Hof, der Wind fuhr wie eine Rollschuhkufe über Andras’ Nacken. Kozma bellte einen Befehl: Zwei Wachleute zogen László Goldfarb und Mendel Horovitz aus der Ecke. Beide waren mit blutigen Kratzern überzogen, als wären sie durch ein Dornengestrüpp gestolpert. Das linke Bein von Goldfarbs Hose war unter dem Knie abgerissen. Im grellen Mondlicht sah man den Abdruck eines Hundegebisses auf seinem Schienbein. Mendel drückte einen Arm an seine Brust. Sein blutverschmiertes Gesicht war schmerzverzerrt, an seinem rechten Fuß zog er eine kleine Falle hinter sich her. Die Stahlzähne hatten sich in seinen Stiefel gebohrt.
    »Schaut mal, was Erzsi heute Abend im Wald gefunden hat«, sagte Kozma und tätschelte den Hund so heftig, dass er wimmerte. »Leutnant Horvath war so freundlich, nach draußen zu gehen und nachzusehen, was der

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