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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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deportiert waren wie wir jetzt. Vielleicht hatte Varsádi deswegen Angst, ertappt zu werden.« Doch einige Männer flüsterten miteinander und warfen erst Mendel, dann Andras verstohlene Blicke zu. Beschämt senkte Mendel die Augen; József Hász sprach nur aus, was Mendel selbst längst empfand.
    Da József die veränderte Stimmung der Gruppe spürte, ergriff er seine Chance. »An dem Tag, als wir in den Zug gepackt wurden«, sagte er. »Wisst ihr, was da geschah? Varsádi rief Horovitz zu einer Besprechung in sein Büro. Was glaubt ihr, was er wollte? Jedenfalls nicht unserem Kollegen zu seinem Talent als Schriftsteller gratulieren.«
    »Es reicht jetzt, Hász«, sagte Andras und trat auf ihn zu.
    »Was ist denn, Onkel?«, sagte József und schaute Andras drohend an. »Ich gebe nur wieder, was du mir erzählt hast.«
    »Was wollte Varsádi denn?«, fragte einer der Männer.
    »So wie Lévi hier sagt, wollte er die Originale und die Druckplatten der Schiefen Bahn . Er war sogar so verzweifelt, dass er unsere Herausgeber mit einer Waffe bedrohte. Ich denke, unter diesen Umständen können wir alle verstehen, warum Horovitz den Chefredakteur vom Jüdischen Journal verriet, der ihnen geholfen hatte, die Zeitung zu drucken. Jedenfalls wurden wir eine halbe Stunde später in den Zug geladen.«
    Die Männer sahen Mendel an, doch der widerlegte kein Wort von dem, was József gesagt hatte. Andras hatte nur noch einen Wunsch: sich auf József zu stürzen und ihn zu Boden werfen; allein das Wissen hielt ihn auf, dass eine Schlägerei die Wachen aufmerksam machen würde.
    »Hört zu, Männer«, sagte Elfenbeinturm. »Hier geht es nicht um Die Schiefe Bahn , hier steht auch niemand vor Gericht. Wir sind nicht hier, um zu entscheiden, wer für unsere Versetzung verantwortlich ist. Wir haben Hunger und können an Essen kommen, wenn sich einer bereit erklärt, es zu holen. Vielleicht hätten wir doch besser Strohhalme ziehen sollen.«
    Ein Gemurmel unter den Männern, Kopfschütteln: Jetzt würden sie die Sache nicht mehr dem Zufall überlassen.
    »Ich gehe ins Dorf«, sagte Mendel und sah Elfenbeinturm fest in die Augen. »Ich bin schnell, das weißt du. Wenn ich alleine gehe, bin ich in null Komma nichts wieder zurück.«
    Der Elfenbeinturm widersprach. Sie seien fünfzig Mann in ihrer Einheit, alle hungrig; sie hofften, die Ausbeute an Schwarzmarktware sei so groß, dass sie ein Einzelner allein nicht tragen könne.
    Die übrigen Männer schauten Goldfarb an, dann József Hász und schließlich Andras. Andras und Mendel wurden als Einheit gesehen; alles, was sie taten, machten sie gemeinsam. Eine Erwartungshaltung schien sich im schwachen Licht des Schlafsaals auszubreiten. Andras sah zu Mendel hinüber, wollte sich melden, doch Mendel schüttelte kaum merklich den Kopf. Warte .
    Wieder herrschte lange Zeit Schweigen, bis jemand sprach. József stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, voller Zuversicht, dass sein Argument das gewünschte Ergebnis zeitigte. Und schließlich war es Goldfarb, der vortrat. »Ich gehe«, sagte er. »Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir das tun müssen. Beim nächsten Mal schicken wir Lévi und Hász oder wem wir sonst die Schuld in die Schuhe schieben wollen.«
    Die 79/6 atmete aus. Eine Entscheidung war gefällt: Horovitz und Goldfarb würden sich auf den Weg machen. Es war schon viel Zeit vergeudet worden; die Nacht ging dahin, die Männer mussten auf der Stelle aufbrechen. Mendel und sein Gefährte packten die gesammelten Wertsachen in ihre Hosentaschen, wickelten sich gegen die Kälte ein und schlichen nach draußen in die Dunkelheit. Und die 79/6 kroch in die Betten und wartete – alle außer Andras Lévi und József Hász, die man mit unterdrückten Stimmen in der Latrine streiten hören konnte. Bevor József in sein Bett hatte steigen können, packte Andras ihn am Kragen und zog ihn in den Waschraum mit den kleinen Toiletten und der langen Reihe kindgerechter Waschbecken. Er stieß József gegen die Wand und packte ihn am Kragen, bis der kaum noch Luft bekam.
    »Hör auf!«, keuchte József. »Lass mich los!«
    »Ich höre auf, wenn ich aufhören will, du selbstsüchtige kleine Ratte!«
    »Ich habe nichts gesagt, was nicht stimmt«, gab József zurück und wand seinen Kragen aus Andras’ Griff. »Du hast dieses Blatt mit Horovitz veröffentlicht. Du hast genauso viel Schuld wie er. Das hätte ich auch sagen können, hab ich aber nicht.«
    »Was willst du von mir? Soll ich mich

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