Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
draußen«, sagte Mendel. »Sonst noch jemand?«
»Ich«, sagte ein Mann namens Goldfarb, ein kräftiger Kerl mit einem vollen Rotschopf, dessen Nase aussah, als sei sie seit der frühen Kindheit bei mehr als einer Schlägerei gebrochen worden. Er war Kuchenbäcker aus dem 6. Bezirk von Budapest und sehr beliebt unter den Männern.
»Sind das alle?«, fragte der Elfenbeinturm.
Andras wusste, wer außerdem das Auswahlverfahren überstanden hatte: József Hász. Doch der schob sich zur Tür des Schlafsaals, als wolle er sich heimlich verdrücken. Kurz bevor er hindurchschleichen konnte, rief Elfenbeinturm seinen Namen.
»Was ist mit dir, Hász?«
»Ich glaube, ich bekomme gerade Fieber«, sagte József.
Die Männer der 79/6, die sich seit Józsefs Zwangsverpflichtung vor drei Monaten seine Klagen hatten anhören müssen, hatten nur noch wenig Geduld mit seinen Ausreden. Einige zogen ihn zurück in den Raum und stellten ihn in die Mitte des Kreises. Angespanntes Schweigen folgte, und József begriff seine Situation schnell: Niemanden würde es stören, wenn er zum Wohle der Gruppe seine Haut aufs Spiel setzte. Zu oft war es seine Drückebergerei gewesen, die Kozmas Wut auf sie alle gelenkt hatte. József schien in sich zusammenzuschrumpfen, seine Schultern krümmten sich.
»Ich kann nicht gut im Wald herumschleichen«, sagte er. »Mich sieht sofort jeder.«
»Wird mal Zeit, dass du anfängst, deinen Teil beizutragen«, sagte Zilber, der Elektriker, der mit ihnen in der Offiziersschule arbeitete. »Von Horovitz hört man keine Klagen, dabei organisiert der jetzt seit Wochen zusätzliches Essen für uns.«
»Warum sollte der sich auch beklagen?«, fragte József. »Der marschiert mit Szolomon durch die Landschaft, während der Rest von uns Asphalt schaufelt.«
»Du hast ja wohl nicht vergessen, was mit Szolomons letztem Assistenten passiert ist«, sagte der Elektriker. »Ich wollte die Arbeit nicht machen, selbst wenn es dafür ein Einzelzimmer und zwei Bauernmädchen mit Titten so groß wie Melonen gäbe.«
Mehrere Männer gaben ihrer Bereitwilligkeit Ausdruck, Mendels Arbeit unter diesen Bedingungen durchaus zu übernehmen. Mendel versicherte ihnen, dass keinerlei derartigen Sonderleistungen damit verbunden waren. József Hász lachte nicht mit; er musterte den Männerkreis um sich, und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich panisch, als er keinen Verbündeten entdeckte. Andras beobachtete ihn mit einem Stich von Mitleid – und, das musste er schuldbewusst zugeben, einer gewissen Genugtuung. Jetzt musste Hász wieder einmal begreifen, dass er von den Kräften, die das Leben normaler Sterblicher formten, nicht verschont wurde. In diesem galizischen Waisenhaus war allen egal, wessen Erbe er war oder was er besaß, und niemand ließ sich von seinem guten Aussehen und seinem schiefen Lächeln beeindrucken. Die Männer hatten Hunger; sie brauchten jemanden, der im Ort Essen holte; er erfüllte die Bedingungen. Nicht mehr lange, und er würde kapitulieren müssen.
Doch József Hász hasste es mehr als alles andere, in die Ecke gedrängt zu werden. Mit kühler, vernünftiger Stimme, die seine Angst verbarg, sagte er: »Ihr könnt mich auf keinen Fall vor Horovitz auswählen.«
»Und warum nicht?«, fragte der Elektriker.
»Wenn er nicht wäre, wärt ihr auch nicht hier.«
Zilber lachte, die anderen stimmten ein. »Wahrscheinlich hat er uns persönlich in den Zug gesteckt!«, sagte Zilber. »Und selbst den Krieg angefangen.«
»Nein, aber er hat eine Zeitung herausgegeben, in der es zig Artikel über den Schwarzmarkt gab. Dadurch wusste Varsádi, dass wir alle verstanden hatten, was vor sich ging.«
Andras konnte kaum glauben, was da vor sich ging, was er gerade hörte. Unter den Männern herrschte kurzes nachdenkliches Schweigen, dann brach eine Diskussion los. Elfenbeinturm rief sie zur Ordnung. »Ruhe, alle zusammen«, flüsterte er. »Wenn die Wachen uns hören, ist unser Plan gestorben.«
»Ihr habt mich verstanden«, sagte József und schaute im schwachen Licht in die Runde. »Ohne die Zeitung hätte Varsádi vielleicht nicht die Nerven verloren.« Er warf Andras einen Seitenblick zu, wies aber nicht auf seine Rolle als Illustrator hin; diese Unterlassung war wohl eine Art Dank für Andras’ Ratschläge.
»Das ist absoluter Blödsinn«, sagte der Elektriker. »Niemand hat uns wegen der Schiefen Bahn versetzt. Wir haben alle einen Gang zurückgeschaltet wegen der armen Schweine, die an solche Orte
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