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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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er ihnen die härtesten Arbeiten zu. Wenn man dazu Werkzeug brauchte, nahm er es fort, damit sie mit lumpenumwickelten Händen arbeiten mussten. Wenn ihre Arbeitsgruppe Holzpfähle tragen musste, um die Dämme zu beiden Seiten der Straße abzustützen, befahl Kozma einem Wachmann, sich auf Andras’ und Mendels Holzstoß zu setzen, sodass sie ihn tragen mussten. Wenn sie Schubkarren voller Sand schieben mussten, nahm er die Räder von den Karren ab, sodass sie sie durch den Schlamm hinter sich her ziehen mussten. Sie zahlten diesen Preis ohne Murren. Sie wussten, dass ihre Stellung beim Vermesser und ihre Arbeit in der Offiziersschule sie am Leben halten konnten, sobald das kalte Wetter einsetzte.
    Zwischen Andras und Mendel stand natürlich nicht zur Debatte, eine Zeitung für die 79/6 zu schreiben; selbst wenn sie die Zeit dazu gehabt hätten, hätte ihnen niemals jemand einreden können, dass es eine sichere Angelegenheit sei. Nur einmal kamen sie auf das Thema der Schiefen Bahn zu sprechen. Es war an einem regnerischen Dienstag Anfang September, als sie mit dem Vermesser am hintersten Ende der Straße unterwegs waren. Sie legten den Verlauf zu einer Brücke fest, die neu gebaut werden musste. Szolomon hatte sie in einer verlassenen Scheune zurückgelassen und war zu einem Bauern gegangen, dessen Schweineställe zu nah am zukünftigen Straßenbett lagen. Vor der Scheune nieselte es vor sich hin. Innen saßen Andras und Mendel auf umgedrehten Milcheimern und aßen Vollkornbrot mit Weißkäse, am Morgen vom Vermesser eingeheimst.
    »Nicht schlecht für ein Mittagessen beim Munkaszolgálat«, sagte Mendel.
    »Wir hatten schon Schlimmeres.«
    »Ist natürlich auch nicht Milch und Honig.« Mendel hatte nicht seinen sonst üblichen schiefen Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ich denke jeden Tag darüber nach«, sagte er. »Du könntest jetzt in Palästina sein. Stattdessen machen wir eine Rundreise durch das schöne ländliche Galizien.« Andras war klar, dass er auf die Schneegans anspielte.
    »Wegen dir?«, sagte Andras. »Das ist doch albern, das weißt du.«
    »Nein«, sagte Mendel und seine Schmetterlingsfühlerbrauen zogen sich zusammen. » Die Schneegans war meine Idee. Die Stechfliege auch. Die Schiefe Bahn kam wie von selbst. Ich war derjenige, der den ersten Beitrag schrieb. Und ich war derjenige, der vorschlug, wir könnten die Kameraden mit der Zeitung dazu bringen, langsamer zu arbeiten.«
    »Und was hat das hiermit zu tun?«
    »Ich denke ständig darüber nach, Andras. Vielleicht geriet Varsádis Kompanie unter Verdacht, weil die Züge wegen uns Verspätung hatten. Vielleicht haben wir die Abläufe so verlangsamt, dass bei denen die Alarmleuchten angingen.«
    »Wenn die Züge Verspätung hatten, dann nur deshalb, weil die Verantwortlichen zu gierig waren, um sie rechtzeitig abfahren zu lassen. Das ist doch nicht deine Schuld.«
    »Die Verbindung ist unübersehbar«, sagte Mendel.
    »Es ist nicht deine Schuld, dass wir hier sind. Es herrscht Krieg, falls du das noch nicht gemerkt hast.«
    »Ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass wir das Ganze vielleicht ein bisschen übertrieben haben. Ich kann deswegen kaum noch schlafen, um ehrlich zu sein. Immer wieder geht mir durch den Kopf, dass wir vielleicht schuld an allem sind.«
    Andras hatte schon denselben Gedanken gehabt, im Zug und auch oft danach. Doch als er es Mendel laut aussprechen hörte, spiegelten dessen Worte für ihn eine neuartige Form der Verzweiflung wider, eine Art von Verlangen, die Andras noch nie zuvor bedacht hatte. Hier war Mendel Horovitz und behauptete – zum Preis schrecklich brennender Schuldgefühle –, dass er Einfluss auf sein eigenes Schicksal und das von Andras ausgeübt hatte, dass er eine Wirkung auf die Geschehnisse gehabt hatte, die sie fortgetragen und an der Ostfront wieder abgesetzt hatten. Sicher, dachte Andras. Einleuchtend. Warum wollte ein Mensch nicht seine eigene schändliche Schuld gestehen, warum sollte er nicht die Verantwortung für ein Fiasko übernehmen wollen, wenn die Alternative doch war, sich wie ein Flöckchen menschlichen Staubs zu fühlen?
    Jeder Munkaszolgálat-Kommandeur, hatte Andras inzwischen gelernt, besaß seine ganz eigene Phalanx von Neurosen, hatte seine eigenen Äxte zu schärfen. Um in einem Arbeitslager zu überleben, galt es herauszufinden, was den Kommandeur wütend machte, und diese Ursachen zu vermeiden. Doch bei Kozma waren die Auslöser heikel und mysteriös, seine Launen

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