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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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nur komplexe Polyeder, die Stryj ein gewundener Halbzylinder, der sich von der Grenze der Provinz Lvivska zum tieferen, längeren Graben des Dniester erstreckte. Doch es war ihnen unmöglich, nur die Geometrie des Landes zu sehen; überall waren die Spuren des Krieges deutlich sichtbar, wollten wahrgenommen werden. Bauernhöfe waren niedergebrannt worden, einige von den vorrückenden Deutschen, andere von den Russen beim Rückzug. Vernachlässigtes Getreide verfaulte auf den Feldern. In den Ortschaften waren jüdische Geschäfte zerstört und geplündert worden und standen nun leer. Es war kein einziger jüdischer Mann, keine Frau, kein Kind zu sehen. Auch Polen gab es keine mehr. Die Ukrainer, die geblieben waren, hatten trübe Blicke, als hätten sie ihre Seele ob der erlebten Schrecken verhängt. Auch wenn das Sommergras noch hoch stand und saure Brombeeren an den Büschen entlang der Straße wuchsen, wirkte das Land tot, ein erlegtes, auf dem Waldboden ausgeweidetes Tier. Jetzt versuchten die Deutschen, es mit neuen Organen vollzustopfen, damit es weiterkroch. Ein neues Herz, neues Blut, eine neue Leber, neue Eingeweide – und ein neues Nervenzentrum, Hitlers Führerhauptquartier Werwolf in Winnyzja. Die Straße selbst war eine Ader. Soldaten, Zwangsarbeiter, Munition und Versorgungsgüter sollten darüber an die Front gelangen.
    Der Vermesser war ein gewiefter Mann, der erkannt hatte, dass der Theodolit über seine Aufgabe als Vermessungsgerät hinaus nützlich sein konnte. Kurz nach seinem Eintreffen in Ostgalizien hatte er festgestellt, dass das Gerät auch ein eindrucksvolles Überzeugungsmittel war. Wenn sie auf ein wohlhabendes Bauernhaus oder Lokal stießen, stellte der Vermesser den Theodolit in Sichtweite der Besitzer auf. Früher oder später kam immer jemand aus dem Haus oder der Gaststätte und fragte den Vermesser, was er da tue. Dann erzählte er, dass die Straße über das Land des Eigentümers verlaufen werde, möglicherweise sogar durch das Gebäude selbst. Daraufhin wurde geschachert: Ob der Vermesser vielleicht überzeugt werden könne, die Straße nur ein kleines bisschen weiter nach Osten zu verlegen, nur ein winziges Stück? Und wie der Vermesser das konnte, zu einem bescheidenen Preis. Auf diese Weise kam er an Brot und Käse, frische Eier, Spätsommerobst, alte Kleidung, Decken, Kerzen. Fast jeden Abend brachten Andras und Mendel Nahrungsmittel und Gegenstände ins Waisenhaus und verteilten sie unter den Kameraden.
    Außerdem hatte der Vermesser wertvolle Beziehungen, darunter einen Freund an der königlich-ungarischen Offiziersschule in Turka – ein Offizier, der früher einmal in Szeged ein wohlbekannter Schauspieler gewesen war. Dieser Mann, Pál Erdő, hatte den Auftrag, das berühmte Kriegsdrama Die Tataren in Ungarn von Károly Kisfaludy aufzuführen. Als er sich mit dem Vermesser in der Stadt traf, beschwerte sich Erdő über seine Schwierigkeiten und die Sinnlosigkeit, ein Theaterstück mit jungen Männern zu inszenieren, die auf den Krieg vorbereitet wurden. Der Vermesser redete auf seinen Freund ein, das Stück als Deckmantel für gute Taten zu benutzen – indem er beispielsweise die Hilfe von Arbeitsdienstlern anforderte, sodass sie einige Abendstunden in der verhältnismäßigen Ruhe und Sicherheit der Schulaula verbringen konnten. Insbesondere wies er auf Andras’ Erfahrungen als Bühnenbildner und Mendels literarisches Talent hin. Hauptmann Erdő, ein Liberaler der alten Garde, war gerne bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Bedingungen für die Zwangsarbeiter zu erleichtern; zusätzlich zu Andras und Mendel forderte er die Hilfe von sechs weiteren Angehörigen der 79/6 an, darunter József Hász mit seiner Begabung als Maler, außerdem einen Schneider, einen Tischler und einen Elektriker. Drei Abende pro Woche marschierte diese Gruppe nun von der Einsatzstelle direkt zur Offiziersschule, wo sie dazu beitrug, ein kleineres Militärdrama innerhalb des größeren aufzuführen. Als Bezahlung erhielten die Arbeiter eine Extraration Suppe aus der Küche der Offiziersschule.
    An den Tagen, wenn der Vermesser keine Verwendung für sie hatte – wenn er in einem Büro Berechnungen durchführen musste, topografische Karten korrigierte oder seine Berichte schrieb –, arbeiteten Andras und Mendel mit den anderen auf der Straße. An diesen Tagen ließ Kozma sie für ihre Zeit mit dem Vermesser und für die Abende in der Offiziersschule büßen. Ohne Ausnahme teilte

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