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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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um ihn selbst zu gehen; es war nicht nur das Entsetzen über den Tod seines Freundes, die unbestreitbare Tatsache, dass Mendel nicht mehr da war, sondern auch das Wissen, dass Andras und die gesamte 79/6 auf eine neue Ebene der Hölle vorgedrungen waren, dass ihr Leben für die Offiziere wertlos war, dass Andras seine Frau und seinen Sohn wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Auch das war Józsefs Werk gewesen, Andras in diesen gefährlichen Bereich der Hoffnungslosigkeit zu versetzen. Er stellte fest, dass er in diesem Reich wohnen konnte und trotzdem einen brennenden Hass auf József empfand, der ihn dorthin gebracht hatte. Wenn ein Vermessungsauftrag Andras und József in die Nähe eines verminten Feldabschnitts führte, merkte Andras, dass er sich wünschte, József würde in einer ohrenbetäubenden Explosion verschwinden. Es war nicht schlimmer, als er verdient hatte. Zweimal in jenem Jahr – einmal in Budapest, einmal in Galizien – hatte József Andras zu einem unerträglich hohen Preis verraten. Dass József blutsverwandt mit Klara war, dem Menschen, den Andras auf der Welt am meisten liebte, war eine zusätzliche Qual für ihn; wenn er József aus Klaras Gedächtnis hätte löschen, ihn aus der gesamten Hász-Familie hätte tilgen können, hätte er es auf der Stelle getan. Doch József weigerte sich stur, ausgelöscht zu werden. Er trat auf keine Landmine. Er lauerte am Rand von Andras’ Blickfeld, eine stete Mahnung daran, dass das Geschehene keine Illusion war und nicht rückgängig gemacht werden konnte.
    Die Abende in der Offiziersschule brachten keine Erleichterung. Auch dort sollten Andras und József zusammenarbeiten – Andras als Bühnenbildner und József als künstlerischer Leiter. Das Stück, Kisfaludys Die Tataren in Ungarn , war Andras mehr als vertraut; er hatte sich in seiner Dorfschule in Konyár ad nauseam damit beschäftigen müssen. Ein gestrenger Lehrer hatte die Geschichte fest in seinem Hirn verankert: Bevor Kisfaludy Dramatiker wurde, hatte er als Soldat in den Napoleonischen Kriegen gekämpft. Nach seiner Heimkehr wollte er seine Erfahrungen auf die Bühne bringen, doch die jüngsten Kriege waren noch zu frisch; deshalb richtete er den Blick auf Ungarns ferne Vergangenheit. Andras hatte für seinen Abschluss an der Grundschule einen Aufsatz über Kisfaludy geschrieben. Und jetzt war er hier und entwarf inmitten eines Weltkriegs das Bühnenbild für Die Tataren in Ungarn in einer Offiziersschule in der Ukraine, und sein Kollege war ein Mann, der in gewisser Weise für den Tod von Mendel Horovitz verantwortlich war. Doch es blieb keine Zeit, bei dieser irrealen Kleinigkeit zu verharren. Hauptmann Erdő, der Leiter des Projekts, arbeitete unter großem Druck. Der neue Verteidigungsminister sollte der Offiziersschule in Kürze einen Besuch abstatten; zu seinen Ehren würde das Stück Premiere feiern.
    An einem Donnerstagabend Anfang Oktober standen Andras und József im höhlenartigen Versammlungssaal der Offiziersschule stramm, während Erdő ihre Entwürfe begutachtete. Der Hauptmann war ein groß gewachsener Herr mit vorgewölbter Brust und einem Kranz kurzer ergrauender Haare. Er ließ sich ein Ziegenbärtchen stehen und trug ein Monokel, doch seine Selbstironie ließ darauf schließen, dass alles nur aufgesetzt war, eine Farce, ein Kostüm: Er hielt sich für lächerlich und wollte mit anderen über diesen Scherz lachen. Bei der Besprechung der Entwürfe ahmte er drei oder vier unterschiedliche Stimmen nach. Anstelle dieser gemalten Bäume, sagte er, könne man da nicht ein paar echte Bäume holen, die einen Wald darstellten? Ob das unmöglich sei? Völlig unmöglich! Echte Bäume? Wer hätte denn die Zeit oder Lust, Bäume auszugraben? Aber sei es nicht wichtig, eine realistische Atmosphäre zu erzeugen? Aber sicher. Dann sollten es also echte Bäume sein, echte Bäume. Man könnte auch echte Zelte für das Feldlager nehmen. Das sei doch eine gute Idee. Sie hätten unzählige Zelte da, die würden nichts kosten. Diese Höhle in Originalgröße, aus Kaninchendraht und Pappmaché, könnte man die nicht in zwei Teilen konstruieren, damit sie leichter zu bewegen sei? Das ginge bestimmt, wenn sie entsprechend geplant würde, und deshalb hätte er József und Andras ja genommen, oder? Alles musste mit äußerster Fachkundigkeit geplant und umgesetzt werden. Erdő hatte kein großes Budget, dennoch wollte die Schule einen guten Eindruck beim neuen Verteidigungsminister machen. Der

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