Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
begruben. Siebzehn von ihnen waren beim Einsturz direkt gestorben. Dutzende weitere waren verletzt. Es gab noch mehr Opfer: Die Offiziersmesse war dem Erdboden gleichgemacht worden, bevor die Köche und Tellerwäscher in einen Bunker flüchten konnten – elf Mann waren gestorben. Man nahm an, dass General Vilmos Nagy der Grund für den Angriff gewesen war; nachrichtendienstliche Informationen über seinen Besuch mussten an das NKWD gelangt sein, und Verbände der sowjetischen Luftwaffe erhielten den Befehl, ihn per Bombenangriff zu töten. Doch General Nagy hatte überlebt. Er persönlich hatte den Rettungseinsatz für die Kameraden im eingestürzten Bunker geleitet, zum Missfallen seines jungen Adjutanten, der neben ihm stand und in die rot erleuchtete Wolkendecke blickte, als könne jeden Moment ein neuer Regen sowjetischer YAK -IS herunterprasseln.
Die ganze Zeit trug Andras Klaras Brief in der Tasche und wagte nicht, ihn zu lesen. Dann hatte er endlich die Möglichkeit, in sein Bett zu kriechen und zu versuchen, im Dunkeln ihre Zeilen zu entziffern. József war fast so aufgeregt wie Andras; er hockte im Schneidersitz auf dem Bett unter ihm und wartete auf Nachrichten. Vorsichtig schlitzte Andras den Umschlag mit seiner Rasierklinge auf, dann legte er sich so hin, dass er das Mondlicht wie eine Fackel benutzen konnte. Er zog den Brief hervor und faltete ihn mit zitternden Händen auseinander.
Budapest, 15. Oktober
Lieber A,
stell Dir meine Erleichterung und die Deines Bruders vor, als wir Deinen Brief bekamen! Wir alle haben beschlossen, unsere Reise aufs Land bis zu Deiner Rückkehr zu verschieben. Tamás geht es gut, mir auch, so gut es eben geht. Deine Eltern sind bei guter Gesundheit. Bitte grüße meinen Neffen. Seinen Eltern geht es auch gut. Was Du über M. H.s Abreise nach Lachaise geschrieben hast, kann ich nur hoffen, falsch verstanden zu haben. Bitte schreib mir bald wieder.
Wie immer,
Deine K.
Wir alle haben beschlossen, unsere Reise zu verschieben. Es war genau so, wie Andras befürchtet hatte, nur schlimmer. Nicht nur Klara, sondern auch Tibor und Ilana waren geblieben. Andras hätte natürlich genauso gehandelt – hätte Ilana und Ádám niemals drei Tage, nachdem Tibor verschwunden wäre, allein in Budapest zurückgelassen –, dennoch war es schrecklich und machte ihn wütend. Mit einem einzigen Streich hatte die ungarische Armee die gesamte Familie Lévi festgehalten. Wegen eines Schwarzmarkthandels mit Armeestiefeln und Dosenfleisch, Munition und Autoreifen waren sie alle an einen Kontinent gefesselt, der es darauf abgesehen hatte, seine Juden von der Erdoberfläche zu tilgen. Diese schreckliche Wahrheit setzte sich unter Andras’ Zwerchfell fest und machte es ihm unmöglich, tief durchzuatmen. Er schob die Hand über die Bettkante und gab József den Brief, der mit einem schwachen, kummervollen Laut reagierte – József, der lange behauptet hatte, die Reise nach Palästina sei töricht. Jetzt, nach drei Monaten in der Hölle und all dem, was sie gerade in der Offiziersschule erlebt und gesehen hatten, wusste József jedoch, was es bedeutete, seine eigene Verletzlichkeit zu spüren, das Salz der eigenen Sterblichkeit zu schmecken. Er verstand, was es für Klara und Tamás, für Tibor, Ilana und Ádám bedeutete, in Ungarn festzusitzen, während der Krieg von allen Seiten näher rückte. Er musste wissen, was seine eigene Deportation für seine Eltern bedeutete; aus dem gut in Klaras einzigem Satz über György und Elza musste er die Wahrheit herausgelesen haben.
Doch immerhin hatten er und Andras diesen Brief, diesen Beweis dafür, dass das Leben zu Hause weiterging. Andras konnte hören, wie Klara die verschlüsselten Zeilen des Briefes laut vorlas; kurz war ihm, als liege sie bei ihm, an ihn gedrückt in diesem unmöglich kurzen Bett. Ihre Haut heiß unter dem eng geschnürten Kleid. Der warme, schwarze Geruch ihres Haars. Ihre Lippen, die eine Kette von Codewörtern formten und sie wie kühle Glasperlen in sein Ohr fallen ließen. Wir alle haben beschlossen, unsere Reise aufs Land zu verschieben. Im nächsten Moment würde er ihr antworten, würde ihr erzählen, was geschehen war. Dann verschwand die Illusion, und Andras lag wieder allein in seinem Bett. Er drehte sich um und starrte auf das kalte schlammige Viereck des Hofs, wo die Schritte seiner Kameraden schon vor langer Zeit die kindergroßen Fußabdrücke verwischt hatten, die bei ihrer Ankunft zu sehen gewesen waren. Im
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