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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Mondlicht konnte Andras die beiden Erdhügel erkennen, unter denen die Gräber von Mendel und Goldfarb waren, und dahinter die hohe Backsteinmauer, darüber die Baumwipfel, und noch weiter fort ein Sternengespinst vor der blauschwarzen Leere des Himmels.

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    36.
Ein Feuer im Schnee
    EINEN TAG NACH DEM FLIEGERANGRIFF kam die Arbeit an der Straßenverbindung Turka-Skhidnytsya zu einem vorübergehenden Stillstand. Alle ungarischen Arbeitskompanien in der Gegend wurden zur Offiziersschule geschickt, um die Schäden zu beseitigen. Die von Bomben getroffenen Gebäude mussten wieder aufgebaut, die aufgerissenen Straßen ausgebessert werden. General Vilmos Nagy war noch immer in der Offiziersschule; er konnte erst ins Führerhauptquartier nach Winnyzja weiterreisen, wenn sichergestellt war, dass ihm keinerlei Gefahr drohte. Nagys Anwesenheit spornte Major Kozma an. Ohne die unkonventionellen politischen Sichtweisen des Generals zu kennen, ergriff er die Gelegenheit, zu Nagys Unterhaltung einen wahren Zirkus aufzuführen. Der Backsteinschutt und die gesplitterten Holzbalken der Offiziersmesse sollten von Pferdekarren weggezogen werden, doch es standen nicht genug Pferde zum Anschirren für die Karren zur Verfügung; auch in den Ställen hatte es Verluste gegeben. Und so spannte Kozma stattdessen seine Männer an. Acht Zwangsarbeiter, darunter Andras und József, wurden in einem Geschirr aus Lederriemen festgezurrt und mussten Karren voll Schutt aus der eingestürzten Offiziersmesse zum Sammelplatz ziehen, umgewidmet in einen Schrotthof für Baustoffe. Die Entfernung betrug zwar kaum dreihundert Meter, doch der Karren war immer bis oben hin gefüllt. Die Männer stapften voran wie durch einen See erhärtenden Betons. Wenn sie erschöpft auf die Knie sackten, stiegen die Wachleute vom Kutschbock und traktierten sie mit Peitschen. Eine Gruppe von Offiziersanwärtern hielt bei der Arbeit inne, um sich das Schauspiel anzusehen. Sie buhten, wenn die Männer hinfielen, und klatschten, wenn Andras, József und die anderen sich wieder aufrichteten und den Karren einige Meter weiter in Richtung der Entladestelle schleppten.
    Im Lauf des Vormittags machte das Spektakel so groß von sich reden, dass es auch Nagy zu Ohren kam. Entgegen dem Protest seines jungen Adjutanten verließ er den Bunker, wo er Unterschlupf gesucht hatte, und marschierte über den Sammelplatz zur Ruine der Offiziersmesse. Die Daumen in den Gürtel gehakt, blieb der General stehen und beobachtete, wie die Arbeitsmänner Schutt auf die Ladefläche des Karrens schaufelten und ihn dann fortzogen. Nagy ging von der Ladefläche zum Gurtgeschirr, fuhr mit der Hand über die Lederriemen, die die Männer mit den Zugstricken verbanden. Kozma eilte quer durch die Ruine heran und baute sich neben dem General auf. Er reckte sich zu voller Größe und grüßte zackig mit der Hand an der Schläfe.
    Der General erwiderte den Gruß nicht. »Warum sind diese Männer an den Karren gespannt?«, fragte er Kozma.
    »Das sind die besten Pferde, die wir haben«, sagte Kozma und zwinkerte mit seinem gesunden Auge.
    Der General nahm seine Brille ab. Lange Zeit putzte er sie mit seinem Taschentuch, dann setzte er sie wieder auf und blickte Kozma kühl an. »Schneiden Sie die Männer los«, sagte er. »Alle.«
    Kozma machte ein enttäuschtes Gesicht, aber hob die Hand, um einem der Wachmänner ein Zeichen zu geben.
    »Nicht der«, sagte der General. »Sie machen das.«
    Die Worte lösten neue Kraft in den angeschirrten Männern aus, ein Schauer, den Andras durch die Lederriemen an seiner Brust und seinen Schultern spürte.
    »Auf der Stelle«, sagte Nagy. »Ich wiederhole meine Befehle nicht gerne.«
    So musste Kozma zu allen Männern gehen und die Lederriemen mit seinem Taschenmesser durchschneiden, wodurch er ihnen näher kam, als er ihnen je gewesen war seit dem Tag, als sie seinem Kommando unterstellt worden waren – nah genug, um sie zu riechen, dachte Andras, nah genug, um Gefahr zu laufen, sich mit ihrem chronischen Husten, ihren Läusen anzustecken. Mit zitternden Händen nestelte der Major an den verschlungenen Riemen herum. Er brauchte eine Viertelstunde, um alle acht Männer zu befreien. Die Offiziersanwärter, die zugeschaut hatten, waren verschwunden.
    »Die Wachleute sollen eine Fuhre Schubkarren aus dem Vorratslager holen«, befahl der General Kozma. Zu den Männern sagte er: »Sie ruhen sich hier aus, bis die Schubkarren kommen. Dann werden Sie den Schutt mit der

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