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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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es eine überraschende Veränderung gegeben. Unsere Lebensumstände in T. haben sich zum Besseren gewendet. Es geht uns gut, und wir haben gerade neue Uniformen und einen guten Arbeitsauftrag erhalten. Du darfst dir keine Sorgen um uns machen. Wenn sich für Dich wieder Gelegenheit gibt, aufs Land zu fahren, musst Du Dich auf den Weg machen. Ich werde Dir folgen, sobald ich kann. Leider muss ich Dir bestätigen, was Du wegen M. H. annimmst. Bitte richte meinem Bruder und Ilana alles Liebe von mir aus. Gib Tamás einen Kuss von mir. Wie immer, Dein treuer A.
    Als Andras am nächsten Tag den Offiziersanwärtern und ihren Vorgesetzten das Mittagessen auf die Teller gab, wartete er ungeduldig darauf, dass Erdő an die Theke trat. Als er schließlich auftauchte – mit grimmigem Gesicht, aber ohne Monokel, immer noch in Trauer um Die Tataren in Ungarn und die anderen Verluste des Lagers –, schob Andras ihm seinen Brief unter dem Zinnteller zu. Ohne ein Zeichen des Erkennens, ein Zwinkern oder eine andere Form der Bestätigung ging Erdő die Serviertheke entlang; Andras erhaschte ein weißes Blitzen, als er die Nachricht in die Hosentasche steckte. Solange Post zwischen Ostgalizien und Ungarn befördert wurde, würde Klara wissen, dass es Andras gut ging. Und dass sie nach Palästina aufbrechen sollte, sobald sie konnte.
    General Nagys Maßnahmen für die Rehabilitation der 79/6 zogen sich bis Mitte November. Die Kranken wurden auf dem Krankenrevier behandelt, die Übrigen nahmen durch die Sonderrationen deutlich an Gewicht zu. Hilfreich war auch, dass sie nun in der Küche Dienst taten. Auch wenn die Köche die Lebensmittelvorräte genau im Blick hatten, war es oft möglich, eine einzelne Möhre oder Kartoffel oder eine Extraportion Suppe zu ergattern. Falls Andras die langen Wanderungen mit dem Vermesser vermisste, so konnte er sich über Szolomons wöchentliche Besuche in der Offiziersschule freuen. Der Vermesser brachte Nachrichten über den Krieg, und wenn er konnte, schob er Andras und József eine galizische Delikatesse oder ein warmes Kleidungsstück zu. An einem eisigen Nachmittag sah Andras, wie József ein in Papier gewickeltes Päckchen mit Fettgebackenem aufriss, sogenannte holushky – kleine Öhrchen –, und hatte vor Augen, wie er selbst vor Ewigkeiten heißhungrig verfolgt hatte, wie József in Paris den Mohnstrudel seiner Großmutter auspackte. Kaum zu glauben, was aus ihnen geworden war: zwei hungrige Männer im letzten Winkel eines kriegführenden Landes, der Gnade von Mächten ausgeliefert, die sich ihrer Kontrolle entzogen. Alle Grenzen zwischen ihnen, oder zumindest die Klassenunterschiede, die sie getrennt hatten, als sie in Paris wohnten, waren hier bedeutungslos, wenn nicht gar absurd. Als József ihm das Päckchen mit holushky anbot, nahm Andras es und sagte köszönom . József warf ihm einen überraschten, erleichterten Blick zu, eine Reaktion, die Andras anfangs verwirrte, bis ihm klar wurde, dass es seit Mendels Tod das erste freundliche Wort war, das er zu József gesagt hatte. Sonderbar, dachte Andras, dass der Krieg einen Menschen dazu bringen konnte, einem anderen unfreiwillig zu vergeben, obwohl der keine Vergebung verdient hatte, oder dass man durch den Krieg einen Menschen tötete, den man gar nicht hasste. Es musste die narkotische Wirkung der extremen Verhältnisse sein, überlegte er, jener bittere Trank, den sie jeden Tag mit ihrer Suppenration und dem sandigen Brot hinunterschluckten.
    Später in der Woche erwachten die Männer morgens und fanden den Hof des Waisenhauses von einem grauweißen Schneeschleier bedeckt. Die Wolken schienen ganz erpicht darauf, ihren Inhalt auf einmal abzugeben, die Flocken fielen in eichelgroßen Trauben nieder. Dies war der Winter, den sie gefürchtet hatten, dies war sein unzweideutiger Auftritt; die Temperaturen waren über Nacht um mehrere Grad gesunken. Beim Appell setzte sich der Schnee in ihre Ohren, Münder, Nasen. Er suchte sich seinen Weg in den Spalt zwischen ihren Mänteln und Halstüchern, stahl sich durch die Ösen ihrer Stiefel. Major Bálint stellte sich vorn auf den Sammelplatz und verkündete mit Bedauern, dass die Männer von ihrer Arbeit in der Offiziersschule abgezogen und zum Schneeschaufeln eingeteilt würden. Die Wachen schlossen die Scheune auf und reichten den Männern ihre Werkzeuge – jene spitzen Spaten, die sie für den Straßenbau benutzt hatten, nicht die mit den geschwungenen rechteckigen Blättern, die besser

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