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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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schien so recht zu wissen, was von diesem neuen Verteidigungsminister zu halten war; einige der Dinge, die er gerade gesagt hatte, hörten sich an, als würden sie besser nicht öffentlich ausgesprochen, schon gar nicht in einer Offiziersschule. Aber es gab nur wenig Möglichkeiten einer Reaktion. Es war Zeit für das Theaterstück. Die Magyaren versammelten sich zur ersten Szene auf der Bühne, die Arbeitsdienstler zogen die römische Ruine an ihren Platz und ließen eine Kulisse herunter, die einen blauen Himmel über den moosfarbenen Hügeln von Buda zeigte. Als sie den Vorhang hochzogen, wurde die Bühne von Licht überflutet, es beleuchtete die kriegerischen Ungarn in ihrer bemalten Rüstung. Der Häuptling der Magyaren zog sein Schwert und hielt es in die Höhe. Gerade als er den ersten Satz sprechen wollte, schien die Luft zu einer tiefen Totenklage anzuheben. Durch den Versammlungssaal dröhnte eine anschwellende und wieder abfallende Wehklage. Andras kannte das Geräusch: Fliegeralarm. Sie alle hatten die Vorgehensweise geübt, sowohl hier als auch im Waisenhaus. Aber für diesen Abend war keine Übung vorgesehen, und zum Theaterstück gehörte sie auch nicht. Dies war das wahre Leben. Sie würden bombardiert werden.
    Das Publikum sprang auf und drängte zum Ausgang. Eine Traube von Offizieren umgab General Nagy, der im Gewimmel seine Mütze verlor. Er griff sich an den bloßen Kopf und sah sich um, während ihn seine Mitarbeiter zu einem Nebenausgang schafften. Die Schauspieler flüchteten von der Bühne, ließen ihre Pappwaffen fallen und schoben sich zu einer Treppe am hinteren Ende des Ganges. Andras, József und die anderen Zwangsarbeiter folgten den Schauspielern die Treppe hinunter, die zu einem Bunker unter dem Gebäude führte. Der Bunker war ein Wabennetz aus betonierten Räumen, verbunden durch niedrige Gänge. An der Biegung eines Ganges drängten sich die Männer in eine dunkle Nische; nach ihnen kamen weitere Offiziersanwärter in den Raum. Hoch über ihnen heulten die Sirenen.
    Als die ersten Bomben fielen, erbebte der Bunker, als sei der Mond selbst aus seiner Umlaufbahn geschleudert worden und direkt über ihnen aufgetroffen. Betonstaub rieselte von der Decke, die Glühlampen flackerten in ihren Drahtkäfigen. Einige Männer fluchten. Andere schlossen die Augen wie im Gebet. József bat einen Offiziersanwärter um eine Zigarette und begann zu rauchen.
    »Mach die aus!«, flüsterte Andras. »Wenn wir hier unten eine undichte Gasleitung haben, fliegen wir alle in die Luft.«
    »Wenn ich schon sterben muss, dann will ich dabei rauchen«, gab József zurück.
    Andras schüttelte den Kopf. Neben ihm ließ József eine volle, üppige Rauchwolke durch die Nasenlöcher aufsteigen, als ließe er sich dabei alle Zeit der Welt. Doch die nächste Erschütterung schleuderte ihn gegen Andras, und die Zigarette fiel zu Boden. Mehrere zitternde Schläge jagten wie kleine Erdbeben durch das Fundament des Gebäudes; das waren die Flugabwehrgeschütze, die Rückstöße der Artillerie, die nicht weit vom Versammlungssaal aufgestellt war. Über ihnen zersprang Glas, schwache Schreie drangen durch die Bunkermauern hinunter.
    »Stillgestanden, Männer!«, befahl einer der Offiziere. Sie standen stramm. Es brauchte ein wenig Konzentration, dort in der flackernden Düsternis zu stehen; sie verharrten so, bis die nächsten Bomben fielen. Als das Fundament erbebte, dachte Andras an das Gewicht der Baumaterialien über ihm: die schweren Träger, die Böden, die Wände, die Tonnen von Hohlziegeln und Mauerwerk, die Dachstreben und Rahmen, die Abertausende von Schieferpfannen. Er stellte sich vor, wie all diese Materialien auf die fragile Architektur seines Körpers herabfielen. Verletzliche Haut, verletzliche Muskeln, verletzliche Knochen, die kluge Bauweise seiner Organe, die raffinierte Anordnung seiner Zellen – all die Dinge, die Tibor ihm in einem früheren Leben in Paris in Klaras Anatomiebuch gezeigt hatte. Plötzlich bekam Andras keine Luft mehr. Die nächste Detonation verrückte den Raum, und ein Riss erschien in der Decke.
    Dann gab es eine Pause. Die Männer standen still und warteten. Entweder waren die Luftabwehrgeschütze getroffen worden, oder die Schützen warteten auf die nächste Welle von Flugzeugen. Das war am schlimmsten: nicht zu wissen, wann der nächste Geschosshagel einsetzen würde. József bewegte die Lippen zu einer geflüsterten Zauberformel. Andras beugte sich vor, fragte sich, welcher

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