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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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geeignet gewesen wären –, dann marschierten sie mit ihnen hinaus Richtung Dorf, wo sie den Räumdienst antreten sollten.
    Als Szolomon am Nachmittag Andras und József beim Schneeschippen vorfand, teilte er ihnen mit, dass er in ein kartografisches Büro nach Woronesch versetzt worden sei und noch am selben Tag mit einem Armeezug abfahren würde. Er wünschte ihnen, sicher durch den Winter zu kommen, sprach einen Segen über ihre Köpfe und stopfte ihnen lang entbehrte Köstlichkeiten in die Taschen: Dosen mit Fleisch und Sardinen, Gläser mit eingelegtem Hering, Säckchen mit Walnüssen, harte Roggenplätzchen. Dann eilte ihr schweigsamer Gönner und Beschützer über die Straße davon und verschwand in einer Wand aus Schnee.
    Die ganze Woche schneite es weiter. Andras’ Rücken brannte von der Arbeit; neue Blasen nässten an seinen Händen. Nichts, was er bisher im Munkaszolgálat hatte tun müssen, war so schwer wie das Schneeschaufeln, Tag für Tag, ohne dass ein Ende in Sicht gewesen wäre. Doch er konnte die Hoffnung nicht aufgeben, solange noch die Möglichkeit bestand, dass ein Brief aus Budapest kam. Jedes Mal, wenn sie den Schnee von den Wegen der Offizierschule schaufeln mussten, hielten Andras und József nach Hauptmann Erdő Ausschau; wann immer er Post für sie hatte, fand er einen Weg, sie in ihre Taschen zu befördern. Anfang Dezember kam ein Brief von György Hász: Das Familienvermögen sei noch stärker geschrumpft; György, Elza und die ältere Frau Hász seien gezwungen, die Wohnung mit den hohen Decken auf der Andrássy út zu verlassen und bei Klara einzuziehen. Doch sie sollten sich keine Sorgen machen. K sei sicher. Allen gehe es gut. Sie sollten sich allein um ihr eigenes Überleben kümmern.
    Klaras nächste Nachricht enthielt die Neuigkeit, dass Tibor zurück zum Munkaszolgálat beordert und an die Ostfront versetzt worden sei. Ilana und Ádám wohnten jetzt zusammen mit den anderen auf der Nefelejcs utca. Zu siebt lebten sie nun von dem Geld, das für die Reise aufs Land bestimmt gewesen war. Klaras Anwalt schickte es ihnen in kleinen monatlichen Raten. Andras versuchte sich die Situation in Budapest vorzustellen: Die hellen Räume der Wohnung vollgestopft mit den Gegenständen, die die Familie Hász von der Andrássy út mitgebracht hatte, die letzten Teppiche, Schränke und Antiquitäten aus ihrem fürstlichen Vermögen, Elza Hász, eine Trauertaube im Morgenmantel, dazu Klara und Ilana, die sich bemühen, die Kinder inmitten dieser Enge ruhig, sauber und satt zu bekommen, und Klaras Mutter stoisch schweigend in der Ecke, über allem der ewige Geruch von Kartoffeln und Paprika, das blassblonde Licht des winterlichen Budapest, das gleichgültig durch die hohen Fenster fiel. Im Brief fehlte jedes Wort über Mátyás, an den Andras unablässig dachte, wenn die Schneestürme über die Hügel und Felder des Ostens hinwegfegten.
    Mitte Dezember kam eine Nachricht von Józsefs Mutter: György sei mit brennenden Schmerzen in der Brust und hohem Fieber ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Diagnose lautete auf Entzündung des Herzbeutels, jener Membran, die das Herz umschloss. Der Arzt wollte ihn mit Kolchizin, einer Perikardpunktion und drei Wochen Ruhe auf der Herzstation behandeln. Doch durch diese kostspielige medizinische Katastrophe, die fast fünftausend Pengő verschlang, würden sie bald alle auf der Straße sitzen; Klara versuchte gerade zu organisieren, dass ihr Anwalt das nötige Geld schickte.
    Nach dem Erhalt des Briefes war József den ganzen Tag niedergeschlagen und still. Am Abend, im Waisenhaus, ging er nicht zur üblichen Zeit ins Bett. Stattdessen stand er am Fenster und starrte hinunter in die verschneiten Tiefen des Hofs, eine grobe Decke wie einen Morgenrock um sich geschlungen.
    Andras drehte sich in seinem Bett um und stützte sich auf den Ellenbogen. »Was ist?«, fragte er. »Wegen deines Vaters?«
    József nickte. »Er hasst es, krank zu sein«, sagte er. »Er hasst es, jemandem zur Last zu fallen. Es geht ihm elend, wenn er auch nur einen einzigen Tag auf der Arbeit verpasst.« Er zog die Decke enger um sich und schaute wieder hinunter in den Hof. »Unterdessen habe ich aus meinem Leben überhaupt nichts gemacht. Nichts, was für irgendwen von Nutzen wäre, schon gar nicht für meine Eltern. Hatte nie eine Arbeit. War nie verliebt, wurde nie geliebt. Von keinem der Mädchen damals in Paris. Von keinem in Budapest. Nicht mal von Zsófia, die ein Kind von mir

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