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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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worden waren oder an Krankheit und Überarbeitung starben. Ebenso waren sie die Hüter der Geister der jüdischen Waisenkinder von Turka geworden; die Männer der 79/6 waren die Einzigen, die jene winzigen Fußabdrücke in den Gängen und auf dem Hof noch gesehen hatten. Sie hatten an den von den Kindern verlassenen Tischen gegessen, hatten sich die Kritzeleien eingeprägt, die auf den Pulten im Klassenzimmer hinterlassen worden waren, sie waren nachts von denselben Wanzen gebissen worden wie die Kinder, hatten ihre Zehen in die Bettgestelle gebohrt, wo auch die Kinder ihre Zehen hineingeschoben hatten. Nun würden auch die Arbeiter sie verlassen müssen, diese Kinder, die schon dreimal verlassen worden waren: zuerst von ihren Eltern, dann vom Staat und schließlich vom Leben selbst. Doch die Männer der 79/6 – jene, die den Winter überlebten – würden zeit ihres Lebens im August für die jüdischen Waisenkinder von Turka Kaddisch sprechen.
    Sie gingen ostwärts, zu Fuß, der Gefahr entgegen. Die Landschaft um sie herum sah genauso aus wie in Turka: schneebeladene Hügel, schwere Kiefern, papierne Überreste von Maispflanzen auf weißen Feldern, Kuhherden, die Atemwolken in die klirrend kalte Luft schnaubten. Die Ortschaften bestanden aus wenigen verstreuten Gehöften in schattigen Hügelfalten. Der Wind blies durch die Mäntel der Männer, die Kälte setzte sich in ihren Knochen fest. Sie mussten ihr Quartier in Ställen neben Arbeitspferden aufschlagen oder in Bauernhäusern auf dem Boden schlafen, wo sie die ganze Nacht mit offenen Augen lagen aus Angst vor den Bauern, die die ganze Nacht mit offenen Augen aus Angst vor ihnen in ihrem Bett lagen. Manchmal gab es überhaupt keinen Stall und kein Dorf, dann mussten sie in eisiger Kälte unter dem mondhellen Himmel campieren. Nachts sank die Temperatur auf minus zwanzig Grad. Die Männer machten immer ein Feuer, doch auch das war eine gefährliche Angelegenheit; es konnte einen hypnotisieren, konnte einen dazu verleiten, sich nicht mehr zu bewegen, es konnte einen von der schwierigen Aufgabe abhalten, am Leben zu bleiben. Wenn man während der Nachtwache am Feuer einschlief und sich von seiner Wärme dazu verlocken ließ, die Decke von den Schultern rutschen zu lassen, konnte es unbemerkt zu Asche verbrennen und den Menschen an die Kälte verraten. Eines Morgens entdeckte Andras Elfenbeinturm. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen, den großen Kopf vorgebeugt, schlief anscheinend. Vor ihm war ein toter schwarzer Kreis, das im Schnee erloschene Feuer, und seine Schultern bedeckte eine eisige Pulverschicht. Andras legte ihm eine Hand in den Nacken, doch seine Haut war so kalt und unnachgiebig wie der Boden selbst. Drei Tage lang mussten sie seine Leiche tragen, ehe sie einen Flecken Erde fanden, der weich genug war, um den Toten aufzunehmen. Es war neben einem Stall, wo die Wärme der Pferde den Boden vor dem Festfrieren bewahrt hatte. Sie begruben Elfenbeinturm mitten in der Nacht und kratzten seinen Namen und seinen Todestag in die Scheunenwand. Wieder sprachen sie den 91. Psalm. Inzwischen kannten ihn alle auswendig.
    Die Kälte war Tag und Nacht bei ihnen. Selbst in den Ställen und Bauernhäusern war es unmöglich, warm zu werden. Die Männer nähten sich große Handschuhe aus dem Futter ihrer Mäntel, doch das Futter war dünn, und die Kälte kroch durch den Saum herein. Ihre Füße froren in den zerschlissenen Stiefeln. Sie zerrissen Pferdedecken zu Fußlumpen und umwickelten ihre Stiefel, wie es die ukrainischen Bauern taten. Ihre Nahrung trug nur wenig dazu bei, sie zu wärmen, auch wenn Major Bálint sich bemühte, die von General Nagy vorgeschriebenen Rationen beizubehalten. Hin und wieder hatten die Bauern Mitleid und schenkten ihnen etwas: einen Teelöffel Gänseschmalz fürs Brot, einen Markknochen, ein bisschen Marmelade. Andras dachte an den Vermesser und hoffte, dass auch er zu essen hatte – hoffte, die Armee in Woronesch gebe ihm zu essen.
    Tagsüber schaufelten sie den Schnee von den Straßen, oft nicht so schnell, wie er fiel. Sie bekamen einen krummen Rücken, die Hände wurden starr vom Griff um die Schaufeln. Über die teilweise geräumten Straßen fuhren Lastwagen, Geländefahrzeuge, Artillerie, Soldaten, Panzer, Flugzeugteile, Munition. Manchmal tauchte ein deutscher Inspektor auf, schrie sie an, sie sollten Aufstellung nehmen, und beschimpfte sie in seiner Sprache aus kehligen Konsonanten und luftleeren Vokalen. Nachrichten

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