Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
erwartete.«
»Zsófia ist schwanger?«, fragte Andras.
»Nicht mehr. War sie letztes Frühjahr. Sie ist es irgendwie losgeworden. Sie wollte es ebenso wenig wie ich – so wenig hatte sie für mich übrig.« József atmete tief aus. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Mitleid mit mir hast, Andras. Aber es ist schwer, wenn man sich und sein Leben plötzlich so klar sieht. Du verstehst bestimmt, was ich meine.«
Andras sagte, er glaube es zu wissen.
»Ich weiß, dass du nicht viel von meinen Bildern hältst«, sagte József. »Das habe ich letztes Jahr gemerkt, als du vorbeikamst. Als Klara und du mit dem Kleinen bei mir zu Besuch wart.«
»Ganz im Gegenteil, ich fand die neueren Arbeiten wirklich gut. Das habe ich Klara auch gesagt.«
»Was wäre, wenn ich versuchte, meinen Kunsthändler in Budapest zu erreichen?«, fragte József und drehte sich zu Andras um. »Damit er etwas verkauft? Die neuen Bilder sind in meinen Augen zwar nicht fertig, aber ein Sammler könnte anderer Meinung sein. Ich könnte Papp bitten herauszufinden, was er für die neun Bilder bekommen kann.«
»Du willst deine unfertigen Werke verkaufen?«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, sagte József. Einen Moment lang erinnerten seine geschwungene Stirn und die dunkle Schwinge seiner Haare Andras an Klara, und er verspürte einen Schock ungewollter Zuneigung. Er legte sich wieder hin und starrte unter die flache, dunkle Decke.
»Die Bilder, die ich gesehen habe, waren gut«, sagte er zu József. »Die kamen mir nicht unfertig vor. Sie könnten einen hohen Preis erzielen. Aber vielleicht ist es gar nicht nötig, sie zu verkaufen. Klara kann sich das Geld ja vielleicht aus Wien schicken lassen.«
»Selbst wenn«, sagte József. »Meinst du denn, sie bräuchten nächsten Monat nicht noch mehr Geld, für irgendwas anderes? Was ist, wenn eines der Kinder krank wird oder meine Großmutter? Was ist, wenn plötzlich etwas passiert und sie nicht so lange warten können, bis Klara ihren Anwalt kontaktiert hat?« Die Frage schwebte lange in der Luft, und beide dachten über diese beängstigende Möglichkeit nach.
»Was soll ich sagen?«, fragte Andras. »Ich halte es für eine gute Idee. Wenn ich Werke zu verkaufen hätte, würde ich es jetzt tun.«
»Gib mir mal deinen Stift«, sagte József. »Ich schreibe meiner Mutter. Und dann schreibe ich an Papp.«
Andras tastete in seinem Ranzen nach dem kostbaren Bleistift, den er von Erdő bekommen hatte. Mit dem Fensterbrett als Schreibtisch und dem Mondlicht als Lampe begann József zu schreiben. Kurz darauf sprach er wieder in die Dunkelheit.
»Ich habe meinem Vater noch nie etwas geschenkt«, sagte er. »Gar nichts.«
»Er wird wissen, was es für dich bedeutet, diese Bilder zu verkaufen.«
»Was ist, wenn er stirbt, bevor meine Mutter diesen Brief bekommt?«
»Dann weiß wenigstens deine Mutter, was du tun wolltest«, gab Andras zurück. »Und Klara weiß es auch.«
Am nächsten Morgen wachten sie auf und räumten Schnee, und am nächsten Tag räumten sie Schnee, und am Tag darauf trafen sie Hauptmann Erdő, der seine Offizieranwärter die Straße entlangmarschieren ließ, und József gelang es, ihm die Briefe in die Hand zu drücken. Tag um Tag räumten sie Schnee, sie räumten Schnee, bis Major Bálint am 20. Dezember verkündete, dass sie ihre Sachen packen und das Waisenhaus von oben bis unten putzen müssten; ihre Einheit würde am nächsten Tag nach Osten verlegt.
Sosehr sie das Waisenhaus auch hassten, sosehr jeder Mann auch sein zu kurzes Bett verabscheut und geflucht hatte, wenn er sich an einem eisigen Wintermorgen zu den kindergroßen Waschbecken hinunterbücken musste, sosehr sie mit dem einschüchternden Wissen um die Morde gelebt hatten, die auf dem Grundstück stattgefunden hatten – die ihrer Ankunft vorausgegangene Tötung der Kinder und die Hinrichtung von Mendel Horovitz und László Goldfarb –, sosehr sie sich danach gesehnt hatten, diese Räume zu verlassen, in denen sie ausgehungert, geschlagen und gedemütigt worden waren, so sehr sträubten sie sich sonderbarerweise gegen die Vorstellung, das Gebäude einer anderen Kompanie, einer Gruppe von Fremden zu überlassen. Die Männer der 79/6 waren die Hüter all der Toten geworden, hatten Steine aus dem Straßenbett auf die Grabhügel gelegt. Der Boden war immer gefegt gewesen, die Steine sauber; auf die größeren Steinchen hatten sie kleinere gelegt als Achtungsbezeigung gegenüber jenen, die erschossen
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