Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
geschehen war: die Bombardierungen, die jeden Straßenblock der Stadt in Schutt und Asche gelegt und aus den Häusern einen Wald aus Bruchsteinen und Beton gemacht hatten, die Einkesselung der deutschen sechsten Armee mitten in der Stadt, deren Befehlshaber Generalfeldmarschall Paulus sich in einem Keller versteckte, während um ihn herum die Schlacht tobte, der Abschuss der wenigen Versorgungsflugzeuge der Luftwaffe, dann der Durchbruch der Sowjetarmee, um die Kontrolle über den Donbogen zurückzuerobern und die deutsche vierte Armee davon abzuhalten, zur Rettung der eingeschlossenen Sechsten vorzurücken. Niemand wusste, wie viele Tote es gegeben hatte – zweihunderttausend? Fünfhunderttausend? Eine Million? – und wie viele dort noch an Kälte, Hunger und unbehandelten Verletzungen starben, im toten Zentrum des Winters, in der düsteren, kargen Steppe. Angeblich jagten die Sowjets den Rest der ungarischen Armee über die Ebene zurück. Inmitten seiner eigenen Angst, seiner eigenen Flucht empfand Andras eine bittere Genugtuung. Es war der deutschen sechsten Armee nicht gelungen, die Ölfelder um Grosny einzunehmen, es war ihr nicht gelungen, die Stadt zu erobern, die Stalins Namen trug. Diese Niederlagen mochten andere nach sich ziehen. Was nicht gelungen war, mochte auch in Zukunft scheitern. Es war schrecklich, sich über so etwas zu freuen, das wusste Andras – schließlich war das Schicksal der ungarischen Kompanien und Zwangsarbeiter mit dem der Wehrmacht eng verbunden, außerdem waren es Menschen, die da starben, egal welcher Nationalität. Doch Deutschland musste besiegt werden. Und wenn es besiegt werden konnte, ohne dass Ungarn seine Souveränität einbüßte, dann würden die ungarischen Juden vielleicht niemals unter der Nazi-Herrschaft leben müssen.
Das Chaos des Rückzugs gen Ungarn führte zu sonderbaren Aufeinandertreffen, Launen des Schicksals infolge der Vermischung von Dutzenden Arbeitsdienstkompanien. Immer wieder stießen sie auf Männer, die sie aus dem fernen Leben vor dem Krieg kannten. Eines Abends schlug die 79/6 ihr Quartier zusammen mit einer Gruppe aus Debrecen auf, in der sich mehrere alte Schulkameraden von Tibor befanden. An einem anderen Abend trafen sie eine Gruppe aus Konyár selbst, darunter den Bäckerssohn, den älteren Bruder von Orsolya Korcsolya. An einem dritten Abend teilte Andras, gestrandet in einem Märzschneesturm, überraschenderweise eine Ecke eines zum Lazarett umfunktionierten Kornspeichers mit dem Chefredakteur des Jüdischen Journals , dem Mann, der Kollege und Gegenspieler von Frigyes Eppler gewesen war. Er war kaum wiederzuerkennen, so zerfressen von Kälte und Hunger, dass er nur noch ein Drahtgestell zu sein schien, über das sein früheres Selbst gespannt war; niemand hätte sich vorstellen können, dass dieser ausgehungerte Mann mit den dünnen Ärmchen und den vor Fieber flackernden Augen einst ein kämpferischer Redakteur in einem irischen Tweedsakko gewesen war.
Der Mann wusste über Frigyes Eppler zu berichten, dass er Arbeitsverbot erhalten hatte, nachdem die Militärpolizei in seinem Büro eine Akte mit belastenden Unterlagen gefunden hatte, ein Bündel Papier, das ihn dem Vernehmen nach mit einem Schwarzmarkthandel in Szentendre in Verbindung brachte, ausgerechnet dort. Kurze Zeit später war Eppler zum Munkaszolgálat geschickt worden; seitdem hatte niemand mehr von ihm gehört, wenigstens nicht, so weit sein alter Vorgesetzter wusste. Er selbst war wenige Wochen darauf eingezogen worden zu einer anderen Kompanie. Jetzt gehörte der Chefredakteur zu einer Gruppe kranker oder verwundeter Männer, die von ihrem Kommandeur im Kornspeicher zurückgelassen worden waren, um dort zu verhungern oder ihrem Fieber zu erliegen. Major Bálint hatte der 79/6 befohlen, sich um die Kranken zu kümmern – ihnen Nahrung und Wasser zu bringen und die schmutzigen provisorischen Verbände auf ihren Wunden zu wechseln. Als Andras diese Pflichten bei dem Chefredakteur erledigte, erfuhr er vom Schicksal eines anderen Mitglieds jener Kompanie, eines Mannes, dessen Geschichte so grausam war, dass er den Beinamen Onkel Hiob bekommen hatte. Dieser Mann sei einst mit einer wunderschönen Frau verheiratet gewesen, einer ehemaligen Schauspielerin, mit der er ein Kind hatte; angeblich hätte er in Paris gelebt, wo er ein großes Theater im Stadtzentrum geleitet hätte. Vor dem Krieg sei er gezwungen gewesen, nach Budapest zurückzukehren, wo er für kurze Zeit den Posten
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